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O du Seelengesicht! Denn ich duze dich, weil du es forderst!
210 Aber die Stub' ist warm, und gleich soll der Kaffee bereit sein!
Ihr um den Nacken die Arme geschmiegt, liebkoste die Tochter:
Mutter, ich duze dich auch, wie die leibliche, die mich geboren;
Also geschah's in der Bibel, da Herz und Zunge vereint war;
Denn du gebarst und erzogst mir den wackeren Sohn Zacharias,
215 Der an Wuchs und Gemüt, wie er sagt, nachartet dem Vater.
Mütterchen habe mich lieb; ich will auch artiges Kind sein!
Fröhliches Herz und rotes Gesicht, das hab' ich beständig,
Auch wenn der Ost nicht weht. Mein Väterchen sagte mir oftmals,
Klopfend die Wang', ich würde noch krank vor lauter Gesundheit.
220 Jetzo sagte der Sohn, sien Weib darstellend der Mutter:
Mütterchen, nehmt sie auf Glauben. So zart und geschlank, wie sie
dasteht.
Ist sie mit Leib und Seele vom edelsten Kerne der Vorwelt.
Daß sie der Mutter nur nicht das Herz abschwatze des Vaters!
Komm denn und bring als Gabe den zärtlichsten Kuß zum Geburtstag!
225 Schalkhaft lächelte drob und sprach die treffliche Gattin:
Nicht zur Geburtstagsgabe! Was Besseres bring' ich im Koffer
Unserem Vater zur Lust und dem Mütterchen, ohne dein Wissen!
Sprachs und faßte dem Manne die Hand; die fiebernde Mutter
Öffnete leise die Thür' und ließ die Kinder hineingehn.
230 Aber die junge Frau, voll Lieb' im lächelnden Antlitz,
Hüpfte voraus und küßte den Greis. Mit verwunderten Augen
Sah er empor und hing in der trautesten Kinder Umarmung.
43. Die Ameise.
Johann Gottfried Herder. Sämtl. Schriften. Heransg. von Bernhard Suphan. Berlin. 1877 ff.
Weidmannschc Buchhh. XXVIII. S. 199.
Ein Müßiggänger sah die Lilie
Des Feldes blühn und hört' der Vögel Chor
Lobsingen. „Bin ich denn nicht mehr als sie?"
Sprach er. „Wohlan, so sei mein Leben auch.
5 Blühn und verblühen, anschaun und Gesang!"
Er ging zur einsam-frommen Wüstenei
Und harrete aus Offenbarung. Da
Rief eine Stimme: „Schau zur Erd' hinab,
Simplicius!" Er sah. Ein wimmelnd Nest