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worden sei, und da in diesem Falle zu sürchten war, daß der Name des
Muttermörders und seines Gehilfen ihnen zum Verderben gereiche. Unter
solchen Gesprächen näherten sie sich dem Haine, aus dessen lichten Zwischen¬
räumen sie bald das weiße Gemäuer des gesuchten Artemistempels hervor¬
schimmern sahen.
Eben hatte Jphigenia in demselben voll düsterer Schwermut das
Morgenopfer dargebracht. Ihr Blick war wild, ihr langes Haar flatterte
ungeordnet über Brust und Schultern hin, und in ihrem Herzen kochte
Verzweiflung und bitterer Menschenhaß. Die Männer erschraken bei ihrem
Anblick; in diesem Aufzuge und diesen Mienen war nichts mehr von der
Griechin zu erkennen. In ihrem Gefolge erblickten sie eine Anzahl wilder
Taurier, deren Gebaren das Äußerste für sie fürchten ließ.
„Wer seid ihr?" rief die Priesterin sie an.
„Griechen sind wir aus Aetolien," versetzte Pylades und erzählte nun
eine Reihe von Erdichtungen, um seine wahre Herkunft und den Zweck der
Reise zu verbergen.
„Kanntet ihr denn das Gesetz der Taurier nicht, das jeden Fremden,
der unserer Küste naht, den Göttern zu opfern befiehlt?"
„Nimmermehr," rief Pylades, „kann ein Volk, das Götter verehrt, ein
Gesetz haben, welches armen Schiffbrüchigen, die ohnedies elend genug sind
und die jedermann mit Erbarmen aufnimmt und beherbergt, noch vollends
das letzte, was sie haben, das Leben, so grausam zu rauben befähle. Wie
könnte den Göttern solch ein Opfer gefallen? Nein, Jungfrau, solch ein
Herz wohnt nicht in dir. Wenn du von Menschen menschlich geboren bist,
so muß unsre Not dich rühren, und du wirst uns Nahrung und Herberge
geben, bis wir weiter ziehen können. Mag das Gesetz für Frevler sein,
die eures Reiches Frieden zu stören kommen, uns Unschuldige werdet ihr
ja nicht als Verbrecher strafen."
„Ihr müsset sterben?" rief die Priesterin, und winkte ihren Begleitern.
Diese umringten sogleich die beiden Schlachtopfer und schickten sich an, sie
wegzuführen. Orestes, der noch nicht ein Wort gesprochen hatte, schwieg
auch jetzt und sah mit starren Blicken vor sich hin. Pylades aber warf
sich der Priesterin zu Füßen und versuchte alles, was Liebe für seinen
Freund und Angst um sich selbst ihm eingaben, um das Herz der Uner¬
bittlichen zu rühren. Sein Flehen war nicht ganz umsonst. Jphigenia
wurde unschlüssig und kämpfte sichtbar mit sich selber. Endlich sprach sie
in großer Bewegung: „Sonst habe ich wohl selbst den König dieses Landes
um die Freilassung eines Unglücklichen gebeten, den sein böses Schicksal
an diese Küsten geworfen hatte. Auch rührte mich der Name der Griechen,
und diese Mundart — ach! die ich so selten vernehme! Aber seitdem mir