Full text: Geschichtliches Lesebuch

II. v. Sybel, Erste Jahre des Bundestags. 17 
gewesen. Diese Befugnis der Partikularstaaten war um so mißlicher, 
als drei fremde Könige Mitglieder des Bundes waren, England für 
Hannover, Niederland für Luxemburg, Dänemark für Holstein. Ohne 
Zweifel wurde die Regierung dieser Bnndeslande nicht nach deutschen, 
sondern nach fremden Interessen geführt, und bald genug sollte sich 
die Gefahr dieser Zwitterstellung nicht bloß für die darin befindlichen 
Territorien, sondern für das ganze öffentliche Leben Deutschlands 
zeigen. Daß die Präsidialmacht des Bundes, Österreich, bei dem 
Übergewicht ihrer anßerbündischen Kronlande kaum ein wärmeres Herz 
als jene drei Höfe für die deutschen Interessen haben konnte, braucht 
nicht weiter erörtert zu werden. 
Vollendet wurde die Unsicherheit aller dieser Dinge durch die 
Aufnahme des deutschen Verfassungsgesetzes in die Wiener Kongre߬ 
akte, welche die fünf Großmächte nebst Schweden, Spanien und 
Portugal zur Regelung des gesamten europäischen Zustandes verein¬ 
barten. Österreich und Preußen hatten diese Maßregel in dem guten 
Glauben betrieben, daß damit die Sicherung des Bundes gegen fremde 
Eingriffe durch Europa gewährleistet sei. Ganz anderer Meinung 
aber war man in Petersburg, Paris und London; nachdem die 
Bundesakte als Teil der Kongreßakte unter den Schutz der Mächte 
gestellt sei, dürfe auch Deutschland ohne die Erlaubnis der Garanten 
daran nichts ändern, stehe also unter europäischer Vormundschaft, genau 
so wie im 18. Jahrhundert Polen unter der russischen gestanden hatte. 
Der Zweifel war um so gefährlicher, als vom ersten Tage an recht 
viele deutsche Fürsten keine Bedenken trugen, bei innern Nöten oder 
nachbarlichen Händeln den hohen Schutz vornehmlich des russischen 
Kaisers anzurufen; soweit wie auf diplomatischem Wege möglich, 
lehnten wohl die beiden Großmächte derartige Einmischung ab, aber 
erst als im Jahre 1831 gegen einen von jenen veranlaßten Bundes¬ 
beschluß die drei fremden Großmächte als Garanten der deutschen Ver¬ 
fassung einen förmlichen Protest anmeldeten, wies der Bundestag unter 
Preußens Vorgang die Anmaßung des Auslandes grundsätzlich zurück. 
Die Fremden ließen darauf beit einzelnen Fall auf sich beruhen, hielten 
aber ihren Anspruch aufrecht, und haben ihn, wie wir sehen werden, 
noch oft in gefährlicher Weise durchzusetzen versucht. Die wichtigste 
Forderung eines großen Volkes, die nationale Unabhängigkeit, war 
somit für Deutschland, am Abschluß seines glorreichen Befreiungs¬ 
kriegs, aus einem anerkannten Rechtssatz zu einer offenen Machtfrage 
geworden. 
Müller, Geschichtliches Lesebuch. 2
	        
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