fullscreen: Von Wulfila bis zur Sturm- und Drangzeit (1, [Schülerband])

Christoph Gottsched. 
Versuch einer kritischen Dichtkunst. 
l. 
Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, 
der in dem ganzen Gedichte zugrunde liegen soll, nach Beschaffenheit 
der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne 
man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung 
vorkömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die 
Sinne fällt. . . Nunmehro kömmt es auf mich an, wozu ich diese 
Erfindung brauchen will, ob ich Lust habe, eine äsopische, komische, 
tragische oder epische Fabel daraus zu machen? Alles beruht hierbei 
auf der Benennung der Personen, die darin vorkommen sollen. Äsopus 
wird ihnen tierische Namen geben. . . Wäre ich willens, eine komische 10 
Fabel daraus zu machen, . . die Personeil müßten hier entweder 
bürgerlich oder zum höchsten adelig sein; denn Helden und Prinzen 
gehören in die Tragödie. . . Die Namen würden nur dazu erdacht, 
und man dürste sie nicht ans der Historie nehmen. . . Die Tragödie 
ist von der Komödie nur in der besonderen Absicht unterschieden, daß 
sie anstatt des Gelächters die Verwunderung, das Schrecken und 
Mitleiden zu erwecken suchet. Daher pflegt sie sich lauter vornehmer 
Leute zu bedienen, die durch ihren Stand, Namen und Aufzug mehr 
in die Augen fallen und durch große Laster und traurige Unglücks¬ 
fälle solche heftige Gemütsbewegungen erwecken können. . . Endlich 20 
folgt die epische Fabel, die sich für alle Heldengedichte und Staats¬ 
romane schicket. Diese ist das Fürtrefflichste, was die ganze Poesie zu¬ 
stande bringen kann, wenn sie nur auf gehörige Art eingerichtet wird. 
Ein Dichter wählt also dabei in allen Stücken das Beste, was er in 
seinem Vorräte hat, ein so großes Werk damit auszuschmücken. Die 
Handlung muß wichtig sein, das ist, nicht einzelne Personen, Häuser
	        
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