Full text: Klasse 3 - 1 ; Gedichte (Teil 10, [Schülerband])

III. Das ritterliche Epos. 
geboren wurde, und denkt daran, daß sie bald auf sein Grab scheinen 
werde.“ Dazu ist das Bild von den Blutstropfen im Schnee ein uralt 
mythischer Zug, der sich durch die keltischen, wie die deutschen Sagen gleich— 
mäßig hinzieht und bei uns aus dem Märchen von Sneewittchen und vom 
Machandelbaum bekannt, in unserm Gedichte aber mit ungemeiner Zartheit 
in den Charakter und das Leben unsers Helden verflochten ist. Die von 
Artus abgesandten Ritter können Parzival nicht aus seinen Träumen auf— 
wecklen, bis Gawein ihm die Blutstropfen verdedt; aber als Parzival nun 
zu Artus kommt, der ihn in die Tafelrunde aufnehmen will, da erscheint 
die grause Fluchbotin des Grals, die Zauberin Kundrie, flucht Parzival, 
und dieser leistet Verzicht auf die weltliche Ritterschaft dieser Tafelrunde, 
gelobt sich dem Gral, aber ohne Kraft und Zuversicht und reitet traurig 
und an Gott verzweifelnd von dannen. Länger als vier Jahre irrt er, 
fern von Gott wie von der Heimat, in sich verbissen, trotzig und verzagt 
umher: es ist die Zeit des Zweifels, und während dieser Zeit verliert ihn 
das Gedicht völlig aus den Augen, um in langer, zierlicher Ausführung 
die Herrlichkeit des weltlichen Rittertums zu ihrem Rechte kommen zu lassen. 
Der Held der Begebenheiten ist nun auf längere Zeit nicht Parzival, sondern 
Gawein, sein Genosse an Artus' Hofe, der nach manchen ritterlichen Taten als 
weltlicher Ritter gleichfalls, wie einst Parzival, auszieht, um den Gral zu suchen. 
Nach vier Jahren finden wir Parzival wieder, wie er am Karfreiitag, 
dessen Heiligkeit er durch Waffentragen verunehrt, — denn schon lange 
hat er nach Gott nicht gefragt — durch einen Ritter im grauen Gewande 
zum erstenmal wieder auf das höhere Ziel seines Lebens hingewiesen, zum 
erstenmal wieder an die Treue Gottes, seiner Untreue und seinem Zweifel 
gegenũber, gemahnt wird. Diese Schilderung mag leicht zu dem Einfachsten, 
aber auch zu dem Treffendsten und Besten gehören, was nicht allein Wolframs 
Gedicht enthält, sondern was jemals in dieser Weise gedichtet worden ist. 
Nachher gelangt Parzival, geleitet von dem Ritter im grauen Gewande, 
zu einem Einsiedler, in welchem er seinen Oheim Trevrizent findet. Dieser 
belehrt ihn, daß Hochmut und Zweifel niemals den Gral gewinnen können; 
er selbst habe, wenn schon aus dem Königsgeschlecht des Grals entsprossen, 
weil er sich selbst als unwürdig habe erkennen müssen, der Würde eines 
Pflegers des Grals entsagt; sein Bruder Anfortas, der König im Gral, 
habe auch einst das Feldgeschrei „Amur“ vor sich hergetragen, und der Ruf 
weltlicher Liebe „sei zur Demut nicht völlig gut“; darum habe er im Streit 
unterliegen müssen, sei mit einem vergifteten Speer (eben dem, der einst 
in der Gralburg durch den Saal getragen worden) verwundet worden und 
schleppe nun ein sieches Leben kümmerlich hin, das er doch nicht enden könne 
und dürfe; vielmehr schöpfe er täglich neue Kraft, zu leben und Schmerzen 
zu ertragen, aus dem Anschauen des Grals, bis dereinst, wie man aus einer 
Inschrift am Gral wisse, ein Ritter kommen werde, der nach dem Leiden 
des Königs und nach dem Gral fragen und sich durch diese Frage als den 
bezeichnen werde, dem Anfortas das Königtum im Gral übertragen könne. 
Das aber sei nun eben er, Parzival, welcher seinem Oheim seine Herkunft 
und Geschichte bereits erzählt hatte.
	        
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