Full text: Ein Lesebuch für die 4. und 3. Klasse höherer Mädchenschulen (Teil 3, [Schülerband])

Wieland. 
[III] 249 
Christoph Martin Wieland (1733—1813). 
*95. Der Streit um des Esels Schatten. 
Ein gewisser Zahnarzt, Namens Struthion, von Geburt und 
Voreltern aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren 
in Abdera häuslich niedergelassen,- und weil er vielleicht im gan¬ 
zen Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich 
seine Kundschaft über einen ansehnlichen Teil des mittäglichen 
Thrazien. Seine gewöhnliche Weise, denselben in Kontribution 
zu setzen, war, daß er die Jahrmärkte aller kleinen Städte und 
Flecken auf mehr als dreißig Meilen in der Runde bereiste, wo 
er neben seinem Zahnpulver und seinen Zahntinkturen gelegentlich 
auch verschiedene Arkana wider Milzbeschwerungen, Engbrüstigkeit 
u. s. w. mit ziemlichem Vorteil absetzte. Er hatte zu diesem 
Ende eine wohlbeleibte Eselin im Stalle, welche bei solchen Ge¬ 
legenheiten zugleich mit seiner eignen kurz-dicken Person und 
mit einem großen Quersack voll Arzneien und Lebensmittel be¬ 
laden wurde. 
Nun begab sichs einstmals, da er den Jahrmarkt zu 
Gerania besuchen sollte, daß seine Eselin nicht im stände war, 
die Reise mitzumachen. Struthion mietete sich also einen an¬ 
dern Esel bis zu dem Orte, wo er sein erstes Nachtlager neh¬ 
men wollte, und der Eigentümer begleitete ihn zu Fuße, um 
das lastbare Tier zu besorgen und wieder nach Hause zu reiten. 
Der Weg ging über eine große Heide. Es war mitten im 
Sommer und die Hitze des Tages sehr groß. Der Zahnarzt, 
dem sie unerträglich zu werden anfing, sah sich lechzend nach 
einem schattigen Platz um, wo er einen Augenblick absteigen und 
etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war weit und breit 
weder Baum noch Staude noch irgend ein andrer schattengeben¬ 
der Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen 
Rat wußte, machte er halt, stieg ab und setzte sich in den Schatten 
des Esels. 
„Nu, Herr, was macht Ihr da," sagte der Eseltreiber, 
„was soll das?" — „Ich setze mich ein wenig in den Schatten,"
	        
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