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Und über diesen türmen sich noch in geisterhafter Schönheit die
höchsten Zinnen und Zacken des Gebirges empor: blinkende
Schneespitzen, nur an den Schultern unterbrochen von schwärz¬
lichen Klippen oder blaugrünen Eisbrüchen. Der Boden dieses
Hochtales aber ist ein Spielplatz der Gletscherbäche, die hier
von allen Seiten her als weiße Fäden über die Moränenwälle
und die letzten grünen Matten herabkommen. Hoch über einem
dieser Moränenwälle, auf isolierten: Felshügel, schimmert noch
ein kleiner Steinbau tu der Abendsonne: eins von den Unter¬
kunftshäusern, die der Alpenverein an den Enden der Hochtäler
errichtet hat, dort, wo die letzten gebahnten Pfade enden, wo
der Wanderer, der noch weiter will, sich den Steig durch die
schreckhaften Eisgefilde selber bahnen muß.
So ist der Charakter der Landschaft in den Tälern, die zum
mittelsten Eiskamm der Tiroler Alpen hinanführen, zu jenem
Eiskamnr, der von Westen nach Osten, nur an wenigen Stellen
zu tieferen Pässen eingeschnitten, das Land durchzieht.
Haben wir diesen Kamm überstiegen, so erschließen sich
neue Gebirgsbilder. Aber sie sind von ganz anderer Art. Andere
Gesteine bauen sich in abenteuerlichen Formen vor uns auf;
statt des dunklen Fichtenwaldes, der aus der Mitternachtsseite
der Alpen uns umrauschte, grüßen uns die saftigen Wipfel der
Edelkastanie und des Weinstocks zierliches Blätterwerk in den
Tälern und an den tiefern Talwänden. Und wandern wir aus
einer der großen Talfurchen hinauf ins Gebirge, so staunen wir
über die Mannigfaltigkeit der Gesteine, die dort aus den Tiefen
der Erde emporgestiegen sind. Uber rebenumrankte, rote Porphyr¬
kuppen führt uns der Pfad empor; dann wieder an brüchigen
Schieferwänden entlang, wo der verwitterte Steig unter den
Füßen des Wanderers abglitscht. Und dann erreichen wir eine
wellige grüne Hochfläche, aus der wie Trümmer fabelhafter
Riesenbauwerke die weißen Kolosse der Dolomiten aufragen:
Türme, Hörner und Zähne von unglaublichster Gestalt. Wir
wandern über die Hochfläche hin an Schlünden vorüber, die,
von pechschwarzem Porphyr gebildet, wie Zugänge zur Unter¬
welt uns angähnen. Zwischen zwei unersteiglich scheinenden
Naturburgen aus Dolomit überwandern wir ein grünes, grasiges