Kaiser Wilhelm II. § 806. 519
in Deutschland wächst: auch die untersten Klassen verelenden nicht immer
mehr, wie die Führer der Sozialdemokratie einst prophezeiten, sondern sie
kommen, wenn auch langsam, allmählich in bessere Verhältnisse. Handel
und Industrie haben, gefördert durch eine Fülle großartiger Erfindungen,
einen mächtigen Aufschwung genommen: andererseits klagt freilich die Land-
Wirtschaft nicht mit Unrecht; sie leidet vor allem unter dem Rückgang
der Getreidepreise infolge der Einfuhr vom Ausland und unter dem Mangel
an Arbeitskräften: denn diese strömen der Industrie zu. Hier einen wirk-
lichen Ausgleich zu schaffen und zugleich die Industrie und die Landwirt-
schaft zufrieden zustellen, ist schwer, ja unmöglich; doch sucht die Regierung,
die unter Caprivi der Industrie durch die damals abgeschlossenen Handels-
vertrage sehr weit entgegengekommen war, weise abwägend beiden nach
Möglichkeit gerecht zu werden. Das beweisen die neuen Handelsver-
träge von 1904/5 und auch der Umstand, daß in Preußen der geplante
Mittellandkanal, der Rhein, Weser und Elbe verbinden sollte und den
die Agrarier, für ihre Interessen kämpfend, vereitelten, auf die Strecke vom
Rhein bis Hannover beschränkt wurde*).
Feindlich wie die Sozialdemokraten standen und stehen der deutschen
Regierung und ihren auf die gesunde Weiterentwickelung Deutschlands ge-
richteten Bestrebungen vor allem auch die Polen im Osten gegenüber. Seit-
dem sie durch den preußischen Staat aus dem kläglichen Zustand, in dem
sie sich im 18. Jahrhundert befanden, emporgehoben worden sind, haben
sie ihre Ansprüche immer mehr gesteigert. Zwar unterstützten sie nach Bis-
marcks Rücktritt eine Zeitlang die Regierung, und diese zeigte sich darauf-
hin auch ihrerseits nachgiebig; aber bald genug änderte sich das wieder,
und das immer anmaßender werdende Auftreten der Polen, die geradezu
auf die Lostrennung der polnischen Gebietsteile vom preußischen Staate
hinarbeiteten, zwang zu ernstem und entschiedenem Vorgehen gegen sie. Der
1886 geschaffene, 100 Millionen Mark betragende Fonds, der zur Ansied-
lung deutscher Bauern und Arbeiter bestimmt war, wurde verdoppelt und
in Posen die Kaiser Wilhelms-Bibliothek und eine deutsche Akademie ge-
gründet. Bei ihren Bestrebungen, die polnische Gefahr zurückzudrängen,
fand die Regierung auch bei der ultramontanen Partei Widerstand.
Sie ist zwar nicht mehr starr oppositionell wie in den Zeiten des Kultur-
kampss, sondern unterstützt die Regierung in manchen wichtigen Punkten,
ruft aber doch immer wieder Schwierigkeiten hervor und stellt — zum
Teil mit Erfolg — Forderungen auf, die der gedeihlichen Entwicklung
unseres Staatslebens nur hinderlich sein können.
Während wir von dem entschlossenen Vorgehen der Regierung gegen
die Polen die Früchte noch von der Zukunft erwarten, haben andre Re-
formen der neusten Zeit schon segensreich gewirkt. Die volle Rechtseinheit
im Deutschen Reich ist nun endlich hergestellt worden: am 1. Januar 1900
trat nach langen, mühevollen Vorarbeiten das Bürgerliche Gesetzbuch
für das Deutsche Reich in Kraft. In Preußen hat sich vor allem die
Steuerreform des Finanzministers von Miquel (1891 und 1893),
trefflich bewährt: die größeren Einkommen und die großen Kapitalien
werden nun stärker als früher zur Besteuerung, die auf Grund der Selbstein-
schätzung erfolgt, herangezogen, die kleineren Einkommen aber sind entlastet,
*) Schon 1899 war der Dortmund-Ems-Kanal, im Jahre darauf der Elbe-
Trave-Kanal eröffnet morden; vgl. auch § 796.