Full text: Deutsches Lesebuch für die sechste Klasse der bayerischen Gymnasien und verwandter Lehranstalten (Klasse 6, [Schülerband])

III. 
Literatur. Kunst. Aufsatz. 
36. vom Bilderreichtum der deutschen Sprache. 
Unser deutsches Volk ist ein so poesiereiches, so poesiebegnadigtes 
Volk wie vielleicht kein zweites auf dem weiten Erdenrund; nur 
etwa die alten Griechen dürften ihm nahe kommen. Daher liebt es 
bildliche Rede; und das nicht etwa bloß, wo man in erhabener Sprache 
5 reden will, sondern erst recht in der Sprache des gewöhnlichen Lebens. 
Hier wimmelt es förmlich von Gleichnissen und diese sind uns so ge¬ 
läufig, daß wir uns wohl selten nur bewußt werden gleichnisweise 
zu reden. 
Wir nennen einen Menschen steinreich, stocktaub, blutarm und 
10 könnten ebenso richtig sagen: sehr reich, völlig taub, ganz arm. Eine 
Sache ist funkelnagelneu, eine Nacht gar pechkohlrabenschwarz oder 
kohlpechbrandrabenschwarz oder pechrabenhöllenschwarz. Wir haben 
mit einem hölzernen Menschen zu tun, der uns mit ledernen Reden 
quält. — Oder leblose Dinge und Zustände werden wie lebendige 
iS Personen behandelt: das treulose Meer verschlingt sein Opfer; die 
durstige Erde saugt das Wasser aus; eine tückische Krankheit, ein schlei¬ 
chendes Fieber fällt den Menschen an. 
Wir lieben dies Reden in Gleichnissen so sehr, daß wir es an¬ 
wenden auch da, wo das Bild zu der bezeichneten Sache nicht einmal 
so paßt. Wenn ich jemandem, dem bis jetzt die volle Wahrheit vorent¬ 
halten ist, klar und offen sagen will, wie die Sache wirklich sich ver¬ 
hält, so spreche ich: Ich will dir reinen Wein einschenken. So kann 
ich getrost sagen, auch wenn ich keine einzige Flasche besitze oder wenn 
wir auf einsamem Spaziergang weit ab von meinem Weinkeller sind. — 
25 Gereifte Männer halten eine Beratung und verpflichten sich zur Ge¬ 
heimhaltung derselben mit dem Ausdruck, daß keiner aus der Schule 
schwatze. Und doch liegt die Schulzeit schon Jahrzehnte hinter ihnen. 
— Ein Flüchtling kehrt an den Ort zurück, wo er ein Vergehen be¬ 
gangen, in der Zuversicht, es sei vergessen, es sei längst Gras darüber 
30 gewachsen. Das Vergehen ist hier mit einem in die Erde verscharrten 
Dinge verglichen. Man kann der Erde noch lange ansehen, daß da eine 
Grube gegraben ist; erst wenn sich eine Grasnarbe gebildet hat, ist 
die Spur verschwunden. — Die Wörter stehen, gehen, fahren gebrauchen
	        
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