Full text: [Band 6 = 6. Schuljahr, [Schülerband]] (Band 6 = 6. Schuljahr, [Schülerband])

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an. Bei dem engen Zusammenhange des Dichters mit der Natur 
und der Witterung läßt es sich leicht verstehen, wie schwer es ihm 
wurde, das warme, sonnige Italien zu verlassen, das so sehr 
seinem eigenen Wesen entsprach. „Die Luft ist dort lauer, reiner, 
der Himmel blauer und unbewölkter, die Gesichter offen, freund¬ 
lich und lachender, die Formen und Umrisse der Körper regel¬ 
mäßig und anlockender", so bekennt er noch nach Jahren. „Selbst 
das Grün der Wiesen und Bäume ist nicht so kalt und tot, son¬ 
dern höher, heller, mannigfaltiger als in den nördlichen Himmels¬ 
strichen. Alles scheint zum lieblichen Genusse einzuladen und 
Natur und Kunst bieten sich wechselseitig die Hand." So kam 
Goethe an Geist und Wesen ganz verändert aus Italien zurück, 
freier und zugleich gebändigter, gewachsen an Sicherheit und 
innerer Ruhe. 
e. Lebensende und Rückschau. 
Im Oktober 1830 verlor Goethe seinen einzigen Sohn 
August. Auf einer Reise nach Italien fiel er, bei ohnehin zer¬ 
rütteter Gesundheit, rasch einem Fieber zum-Opfer. Goethe rang 
mit übermenschlicher Anstrengung, den Verlust ruhig zu ertragen. 
Mit der endgültigen Ausgabe seiner Werke beschäftigt, suchte er 
sich in Hast in diese Arbeit zu vergraben, aber sein Körper hielt 
diesmal nicht aus. Ein Blutsturz brachte ihn an den Tod. Den¬ 
noch siegte sein Lebenswille noch einmal; „der Körper muß, der 
Geist will". Im Juli 1831 hatte er als endlichen Schlußstein und 
stolze Krone seines Lebens und seines Schaffens den zweiten 
Teil des „Faust" vollendet. Damit war sein Tagewerk gekrönt 
und abgeschlossen. „Mein ferneres Leben", sagte er zu Eckermann, 
„kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist 
jetzt im Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue". 
Er konnte erwarten, daß ihm der Tod nahe stände, aber er 
fürchtete ihn nicht mehr. Auf Erden fühlte er seine Aufgabe 
erfüllt. In einem Brief an Zeller, in dem er seinen letzten Besuch 
in dem lieben, alten Ilmenau (August 1831) erzählt, schreibt er, 
erschüttert von dem Anblick des Liedes „Uber allen Gipfeln ist 
Ruh", das er dort vor 48 Jahren auf dem Gickelhahn angeschrie¬ 
ben hatte: „Nach so vielen Jahren war dann zu übersehen: das 
Dauernde, das Verschwundene; das Gelungene trat vor und 
erheiterte, das Mißlungene war vergessen und verschmerzt". Be-
	        
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