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Entschieden am interessantesten entwickelt sich das Petersburger Straßen¬
leben auf der herrlichen Newsky-Perspektive. Diese prachtvolle Straße hat
eine Länge von 4 Werst, d. h. etwas über 4 km. Gegen das Ende hin
macht sie einen kleinen Winkel. Sie durchschneidet alle verschiedenen Ringe
der Stadt, das Quartier der armen Vorstädter wie die Gegenden des
Reichtums und Luxus im Mittelpunkte der Stadt. An ihrem äußersten
Ende sind auf der einen Seite ein Kloster und ein Kirchhof: Tod und
Einsamkeit. Dann kommen kleine niedrige Häuser von Holz, Viehmärkte
und Branntweinschenken, von singenden russischen Bauern umschwärmt, also
Dorfleben und Vorstadttreiben; weiterhin hie und da zweistöckige Gebäude
aus Stein, bessere Wirtschaften und Läden, die Farben der Häuser gelb
und rot, und die Menschen mit langen Bärten und noch längeren Kaftanen*).
Biegt man aber um die Ecke des Winkels, den die Straße macht, so zeigt
sich in der Ferne die goldene Riesennadel des schlanken Admiralitätsturmes.
Jetzt brauchen wir nur ein paar Brücken zu überschreiten, so offenbart sich
allmählich der Kern der Residenz. Die Paläste schwellen drei- bis vier¬
stöckig empor, die Inschriften an den Häusern mehren und vergrößern sich,
die Vierspänner werden häufiger. Endlich gelangt man zur Fontanka,
einem Arm der Newa, und der Annitschkow-Brücke, und hiermit beginnt
die eigentliche Residenz. Von dieser Brücke bis zum Ende ist die Straße
mit den schönsten Palästen geschmückt, daneben wird das Bild belebt durch
die ausländischen Magazine, die Silberbuden, die Kathedrale und die
Hauptkirchen aller Religionen der Stadt. Und der Verkehr auf dieser
Straße ist überraschend lebhaft. Man sieht Vierspänner auf jedem Tritt
und im Getümmel der Menge Generale und Fürsten auftauchen.
Von der Annitschkow-Brücke bis zum Endpunkte der Straße, der Ad¬
miralität, hin und her zu wandeln, ist eins der anmutigsten Vergnügen,
die ein Stadtleben zu bieten vermag. Auch nimmt jeder Petersburger
Stutzer einmal des Tages seinen Freund an den Arm und macht diese
Promenade ein paarmal auf und ab. Die beliebteste Seite der Straße ist
die nördliche, weil sie die Sonnenseite ist, die hier jeder sucht; sie ist daher
auch mit den schöneren Läden und Verkaufshallen besetzt.
Wie in der Natur anderes Wetter immer wieder andere Tiere zum
Vorschein bringt, so bringt es in Petersburg andere Menschen auf die
Straße. Da nun das Wetter des Petersburger Himmels erstaunlich wankel¬
mütig ist, so verändert sich der Anblick der Straßenmenge dort ungemein
häufig. Noch mehr aber wirkt die Verschiedenheit der Religionen. Frei¬
tags, am heiligen Tage der Mohammedaner, paradieren die Turbanes, die
schwarzen Bärte der Perser und die geschorenen Köpfe der Tataren. Am
1) Oberröcke
2) Kopfbedeckungen aus Zeugstreifen, die mehrmals um ein Käppchen gewickelt sind.