Full text: Für die mittleren (beziehungsw. oberen) Klassen (Band 2, [Schülerband])

105. Ein norddeutsches Erntefest. 
423 
Aus dem Stalle traten der Roßkamm, der Schulze und ein Knecht, 
welcher zwei Pferde, das des Roßkammes und die erkaufte braune Stute 
hinter sich herführte. Der alte Schulze sagte, indem er die letztere zum 
Abschiede streichelte: „Es thut einem immer leid, wenn man eine Kreatur, 
die man auszog, losschlägt; aber wer kann dawider? — Nun, halte dich 
brav, Bräunchen!" ries er und gab dem Thiere einen herzhaften Schlag auf 
die runden, glänzenden Schenkel. 
Der Pferdehändler war mittlerweile aufgestiegen und sah mit seiner 
langen Figur und kurzen Schoßjacke unter dem breitkrempigen, lackierten 
Hute, mit seinem erbsengelben Hosen über den dürren Lenden und den hoch 
hinausreichenden, ledernen Gamaschen, mit seinen Psundsporen und seiner 
Peitsche wie ein Wegelagerer aus. Er ritt, ohne Lebewohl zu sagen, fluchend 
und wetternd davon, die Braune am Leitzaune nachziehend. Keinen Blick 
wandte er nach dem Gehöfte zurück; die Braune dahingegen drehte mehrere- 
male den Hals um und wieherte wehmütig, als wollte, sie klagen, daß ihre 
gute Zeit nun vorüber sei. Der Hosschulze blieb, die Arme in die Seite 
gestemmt, mit dem Knechte stehen, bis der Zug durch den Baumgarten ver¬ 
schwunden war. Dann sagte der Knecht: „Das Vieh grämt sich." „Warum 
sollte es nicht?" erwiderte der Hosschulze; „grämen wir uns doch auch. 
Komm aus den Futterboden, wir wollen Hafer messen!" 
*105. Ein norddeutsches Erntefest. 
Fr. v. Ditfurth. 
Charakterbilder deutschen Landes und Lebens von A. W. Grube. S. Aufl. Leipzig 1873. S. 79. 
Die Ernte beginnt mit dem Mähen des Rübsamens. Zu ihr legen 
alle beteiligten Schnitter, Knechte wie Taglöhner, entweder ganz neue, oder- 
sauber gewaschene weißleinene Kleidung an, und zwar kurze, über den 
Hüsten und unter den Knieen geschnallte Beinkleider, weißleinene Strümpfe 
mit Schuhen, kurze Jacke mit Metallknöpfen und rote Weste. Aus dem Filz¬ 
hute steckt rechts der sogenannte Flinkerbusch, ein etwa fußhoher, mit Flitter¬ 
gold und roten, schmalen Bändern gezierter Federbusch. Auch die Sense 
ziert ein rotes Band. 
Die Mägde tragen kurze, dicksaltige, rote Röcke, schwarze Mieder, 
weiße Strümpfe mit roten Zwickeln und Schuhe. Den Kops deckt eine 
eigentümliche, kleidsame, eng aufliegende Haube, deren vorderer Teil sich 
schnabelförmig aus die Stirn drückt. Am Rechen tragen sie ein rotes Band. 
Es gewährt einen schönen, sehr freundlichen Anblick, überall auf gleiche Art
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.