B. Beschreibende und schildernde Darstellung.
*100. Zur Winterjeit am Ehiemjee.
Heinrich Noe.
Bayerisches Teenbuch. Bd. HI. S. 375.
Das Wasser des Chiemsees wallt unter dem Himmel, und die wim¬
melnde Fläche zeigt das tiefe Blau, wie die sonnenliebenden Gentianen,
welche im Frühjahre die Rasen unseres Landes zieren. Er selbst gleicht
einem ungeheuren feuchten Kelche dieser Blüte, die aus den aufgefangenen
Lichtern sich blendenderen Lasur *) saugt als die Höhe des Himmels und der
Berge. So trug ich sein Bild in mir.
Als ich aber das letztemal durch die buschigen Hügel schritt, welche
Prien von dem moorigen Strande trennen, knarrte der Schnee unter meinen
Füßen. Die Eisdecke des Sees lag da. Das Auge der Landschaft war
tot, wie das eines Menschen, wenn die Linse im Star milchweiß erstarrt.
Bläuliche Fußtapsen zogen sich in die Fläche hinaus; die Herreninsel ragte
dunkel aus den frostigen Hüllen. Hie und da waren aus der dünn be¬
schneiten Eisdecke dunkle Flecken zu sehen. Dort stand Wasser, von Sonnen¬
wärme der vergangenen Tage erzeugt. Es konnte aber die eine oder andere
jener Stellen auch zu den durchgehenden Öffnungen gehören, welche das Volk
der Ufer „Dampflöcher" nennt.
So kommt es, daß es oft nicht geringe Gefahr bringt, durch solche
Wasser zu waten; denn wenn die mächtige Rinde des.'Kerneises fehlt, dann
senkt sich der Wanderer zu den vielerlei Leichen und Knochen, die auf den
Kieseln fünfhundert Fuß2) unter der gebrechlichen Decke liegen. Um sich und
uns davor zu bewahren, nimmt der Führer, der voranschreitet, einen sehr-
langen Stock mit, der am Enbe mit einer scharfen eisernen Spitze versehen
ist. Diese Spitze hält er fünf bis sechs Fuß^) vor sich hin; er stößt aus
bas Eis und prüft, ob es die Last trügt. Bald geht es aus trocknem Pfade
*) = ein Mineral von tiefblauer Farbe.) *) ca. 145 Meter. s) ca. I1/* Meter.