Erster Abschnitt.
Prosa.
l. Erzählende Prosa.
I. Fabeln.
yf 1. Der Wolf und der Schäfer.
(Golthold Ephraim Lessing.)
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze Herde
verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, sein Beileid auszusprechen.
„Schäfer," sprach er, „ist es wahr, daß dich ein so grausames Unglück
betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen? Die liebe,
fromme, fette Herde! Du dauerst mich, und ich möchte blutige Tränen
weinen." — „Habe Dank, Meister Isegrim," versetzte der Schäfer.
„Ich sehe, du hast ein sehr mitleidiges Herz." — „Das hat er auch
wirklich," fügte des Jägers Hylar hinzu, „sooft er unter dem Un¬
glücke seines Nächsten selbst leidet."
2. Sonne und Wind.
(A. G. Meißner.)
Einst stritten sich Sonne und Wind, wer von ihnen der stärkere sei.
Man ward einig, derjenige sollte dafür gellen, der einen Wanderer,
den sie soeben vor sich sahen, am ersten nötigen würde, seinen Mantel
abzulegen.
Sogleich fing der Wind zu stürmen an; Regen und Hagelschauer
unterstützten ihn. Der arme Wanderer wehklagte; aber er wickelte sich
immer fester in seinen Mantel ein und setzte seinen Weg fort, so gut
er konnte.
Schulz, Teutsches Lesebuch. II. 14. Aufl.
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