Object: [Oberstufe, [Schülerband]] (Oberstufe, [Schülerband])

218 
in den zauberhaften Winterschlaf. Sie leben viele Wochen 
lang, oftmals über ein halbes Jahr ohne Speise, ohne Irank 
und ohne Bewegung. Aber beim Frũühlingsläuten des ersten 
Maiglöckchens erwachen sie zu fröhlichem Leben so frisch und 
wohblgemut, so wohlgenährt, als wenn sie sich erst seit gestern 
zur Ruhe hingelegt hätten. 
Die Vögel aber ziehen fort über gewaltige Meere und 
Alpenhöhen in des Südlandes reiche Sommerquartiere, die sie 
noch niemals gesehen, noch niemals betreten haben! Denn nach 
den zuverlässigen Beobachtungen des Vogelkenners Gãtke auf 
der Insel Helgoland ziehen unter gewõhnlichen Verhältnissen 
Jon den dort vorkommenden 396 Vogelarten mit Ausnahme 
des Kuckucks im Herbste zuerst stets die jungen Nestvögel, 
kaum einige Monate alt, nach dem warmen Süden, einen oder 
zwei Monate spãter folgen die Alten, und zwar zuerst die Weib- 
chen, während die schönsten alten Männchen regelmäßig den 
Zug beschließen. Im Frühjahr findet eine entgegengesetzte Rei- 
henfolge statt. Zuerst kKommen die alten Männchen allein, spä- 
er dia Weibchen mit den jungen Vögeln, wie man bei den 
Buchfinken deutlich beobachten kann. 
Was leitet die Vögel während ihrer Züge? — Mit allen 
geinen Fãhigkeiten ist der Mensch nicht imstande, in vollkom- 
Hener Dunkbelheit sich auch nur einige Kilometer in gerader 
Richtung fortzubewegen. Und die Võgel fliegen ohne Weg- 
weiser, ohne Richtzeichen nicht am hellen Tage, sondern meist 
in dunkler Nacht und in solchen Höhen, datß auch für das 
gcharfe Vogelauge die Gebirge und Flußtäler, die Walder und 
Meeresküssten nicht einmal in undeutlichen Umrissen werden 
u ersennen sein. Außerdem haben ja die jungen Vögel die 
Reise nie gemacht. Doch kommen alle ans Ziel! 
Warum flieht der Vogel im Herbste plötzlich die Gegend, 
die ihn geboren hat? 
Es ist nicht die Furcht vor Mangel an Nahrung oder 
hurcht vor den Unbilden des Winters, welche den Vogel ver- 
anlassen, aus seiner Heimat zu fliehen. Er hat ja selbst nie 
die Armut seiner Geburtsstätte während des Winters erfahren, 
Ind wenn er aufbricht, erfreut sich seine Heimat noch des 
Qlonsten Herbstwetters, und Nahrung ist dort für ihn noch in 
großer Fülle vorhanden; von Rälte kann auch noch keine Rede 
ein. Was treibt ihn denn fort? Weiß er etwa, daß er im 
cren sũden einen reichlich gedeckten Tisch finden wird? Ge- 
wiß nicht, denn er war nie dort.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.