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und mit bunten Stiften zu bemalen. Und immer dieselbe Litte, ihm
zu sagen, was denn das sei: die Farbe; was denn das sei: das Licht.
Immer bei diesen Fragen war die Mutter elend und wollte selbst
nichts wissen von der bunten Pracht, die sie ihrem Rinde nicht er¬
schließen konnte. Deshalb trug sie auch nur graue oder schwarze
Uleider.
Sie suchte ihn abzulenken durch die Musik. Sie hatte selbst eine
schöne Stimme und spielte meisterhaft Rlavier. Frühzeitig ließ sie
dem Rnaben Unterricht im violinspiel erteilen.
Oft musizierten sie zusammen, am liebsten, wenn das Licht des
Tages erloschen war, im finsteren Gemache. Dann schwelgten sie im
Reiche der Schönheit, und eines war so reich wie das andere.
Manchmal dachte sie an den Tod, dachte daran, wie einsam er
sein würde, wenn sie nicht mehr wäre; dann zitterte sie.
„Ja, wenn ich ihm meine Rügen vererben könnte, dann möchte
ich sterben. Uber so muß ich leben, ich mutz für ihn sehen."
Inzwischen war der Rnabe zwölf Jahr alt geworden. Sein Vater
unterrichtete ihn privatim, und die Mutter nahm an allen seinen
Studien teil. Sie rechnete mit ihm algebraische Rusgaben und lernte
mit ihm lateinische Vokabeln und Regeln. Der blinde Joseph machte
glänzende Fortschritte, wenn ihn jemand fragte, was er werden
wolle, dann sagte er: Rrzt. (Es täte ihm so leid, wenn jemand krank sei.
Ich unterhielt mich oft mit dem klugen Rnaben. Tr war nicht
wie die anderen: viel weicher, viel empfindlicher. Das machte sein
steter Umgang mit der Mutter.
Tr liebte sie schwärmerisch und sagte zu mir:
„wenn ich eine einzige Sekunde sehen könnte, dann möchte ich
meine Mutter sehen."
(Es ist nicht zu viel, wenn ich sage, daß ich den Rnaben liebte.
Einmal war ich zwei Wochen lang verreist. Zurückgekehrt fand
ich einen schwarzgeränderten Brief auf meinem Tische. Der blinde
Joseph war nach kurzer heftiger Rrankheit gestorben.
Tr war noch nicht begraben; ich konnte noch die Leiche sehen.
Ich gestehe, daß ich mich gefürchtet habe, in das Haus zu gehen.
Ich fürchtete, neben dem toten Rinde eine wahnsinnige Mutter zu
finden.
Ts war anders. Sie saß bei ihm, ganz still, ganz wortlos, ganz
ohne Tränen. Ruf dem weißen Rissen ruhte der schöne Rinderkopf.
Die Hände hielten ein kleines Rreuz; über dem Ropfe brannte ein
einziges Helles Licht.
Die Rügen des Toten standen offen.