Johann Gottfried Herder.
lernen“ darauf zurück, daß man sich selbst in allen seinen Anlagen und
Fähigkeiten, in Seelen⸗ und Leibeskräften zu dem bilde, was Leben heißt;
an sich, so weit es die Gelegenheit, Zeit, Umstände verstatten, nichts roh,
nichts ungebildet lasse sondern dahin arbeite, daß man ein ganz gesunder
Mensch fürs Leben und für eine uns angemessene Wirksamkeit im Leben
werde. Hierdurch bekommt also jeder seine eigene Lection zu lernen, die
für ihn und für keinen andern gehört. Wie einer seine Seelenkräfte,
seine Organe, seine Umstände, seine Lebenszwecke, seine Kräfte und
das Maß derselben selbst am besten kennt und durch Erfahrung erprobt,
so lerne er für sich und für keinen andern, für sein Leben.
Abgeschlossen wird hierdurch in unserm Leben nicht nur alles völlig
Unnütze, sondern auch alles uns Fremde, was nicht zu uns gehört.
Kindisch ist's, sich mit fremden Flicken und Lappen auszuschmücken, wenn
man ein eigenes ganzes Kleid, das unserm Körper gerecht ist, sich selbst
schaffen kann und soll. Wahnsinnig ist's, sich seine Augen ausstechen oder
abstumpfen, um durch ein fremdes Glas sehen zu lernen. Vielmehr übe
und bilde alle deine Seelen⸗ und Leibeskräfte, und zwar in gutem Ver⸗
hältnis in richtiger Proportion aus so lernst du dem Leben!
Wie dies geschehe, muß jedem sein eigenes Herz und der Rath eines
verständigen Lehrers sagen, unter dessen Leitung er sich bildet. Wer vor
lauter Fleiß in der Schule dumm wird, wer sich blödsinnig, hypochondrisch,
schwach und krank studirt, wer Seelenkräfte bildet und den Körper ver—
nachlässigt, gleich als ob er ein purer guter Geist wäre; wer eine Seelen—
kraft, z. B. die Einbildungskraft, das Gedächtnis ohne die andere, den
Verstand, die Überlegung pflegt; wer für den Kopf studirt, ohne ans Herz
zu denken, und ein anderer, der immer nur in Empfindung schwimmen
will, ohne sich mit kalter Kühnheit richtiger Begriffe zu befleißigen; wer
mit allem tändelt und eine ernste, anhaltende Mühe wie die Hölle flieht:
alle diese lernen nicht fürs Leben; denn im Leben muß der ganze un⸗
getheilte Mensch, der gesunde Mensch mit allen seinen Kräften und Glie—
dern, er muß mit Kopf und Herz, mit Gedanken, Willen und That, nicht
etwa nur im Spiel, sondern im höchsten Ernst, nicht nur wohlgefällig,
sondern auch mächtig wirken. Wer dies nicht kann, wer sich hierzu nicht
frühe geübt hat, der hat nicht fürs Leben gelernt. Und o, wen strafte hier
sein Gewissen nicht? Wie manches lernten wir, was wir wohl hätten vor⸗
übergehen können, und gaben ihm eine Zeit, die wir dem Nothwendigeren,
weil es uns nicht angenehm war, entzogen! Wie manches versäumten wir,
was doch das Leben nothwendig fordert, und durch desfen Entbehrung wir
nachher beständige Himpler und Hampler in der Kunst des Lebens wie in
unserm Geschäft bleiben! Erwache, Jugend, und lerne fürs Leben! Die Zeit,
für welche du erwächsest und dich bereitest, braucht gewiß lebensgelehrte
Männer, d. i. Männer, die leben gelernt haben, Männer von richtigen
Sinnen, von gesundem Augenmaß, von fester Hand in allerlei Künsien,
22