Full text: Oberstufe: Zweiter Kursus (Theil 6, [Schülerband])

Johann Heinrich Pestalozzi. 25 
Johann Heinrich Pestalozzi. 
(1746 1827.) 
Geboren am 12. Januar 1746 in Zürich, verlor schon im 6. Jahre seinen 
Vater. Er studirte erst Theologie, dann Jura, faßte aber nach vollendeten Stu— 
dien den Entschluß, Landmann zu werden, und gründete das Landgut Neuhof 
und auf diesem 1775 eine Armenanstalt, bei welcher er das ganze Vermögen 
seiner Frau zusetzte und die sich 1780 auflöste. 1798 errichtete er eine Armen⸗ 
schule in Stanz, die aber nur ein Jahr bestand, gründete in Burgdorf eine Er— 
ziehungsanstalt, die er 1808 nach Merdun (Iferten) verlegte, wo sie bald die 
Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich zog Er starb am 17. Februar 1827. 
Schriften: „Abendstunden eines Einsiedlers“ Lienhard und Gertrud“ „Christoph 
und Else“, Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwickelung des 
Menschengeschlechts u. a 
141. Aus „Lienhard und Gertrud“. 
Erstes Kapitel. 
Ein herzguter Mann, der aber doch Weib und Kind höchst unglücklich macht. 
Es wohnt in Bonnal ein Maurer— Er heißt Lienhard und seine 
Frau Gertrud. Er hat sieben Kinder und guten Verdienst. Aber er 
hat den Fehler, daß er sich im Wirtshaus oft berfuhren läßt. Wenn 
er da ansitzt, so handelt er wie ein Unsinniger, und es sind in unserm 
Dorfe schlaue, abgefeimte Burschen, die darauf ausgehen und davon 
leben, daß sie den Ehrlicheren und Einfältigeren auflauern und ihnen 
bei jedem Anlaß das Geld aus der Tasche locken. Diese kannten den 
guten Lienhard und verführten ihn oft beim Trunk noch zum Spiel und 
raubten ihm so den Lohn seines Schweißes. Aber allemal, wenn das 
am Abend geschehen war, reute es Lienhard am Morgen, und es ging 
ihm ans Herz, wenn er Gertrud und seinen Kindern Brod mangeln sah, 
daß er zitterte, weinte, seine Augen niederschlug und seine Thränen 
verbarg. 
Gertrud ist die beste Frau im Dorfe, aber sie und ihre blühenden 
Kinder waren in Gefahr, ihres Vaters und ihrer Hütte beraubt, ge— 
treunt verstoßen, ins äußersie Elend zu sinken, weil Lienhard den Wein 
nicht meiden konnte. 
Gertrud sah die nahe Gefahr und war davon in ihrem Innersten 
durchdrungen. Wenn sie Gras von ihrer Wiese holte, wenn sie Heu 
von ihrer Bühne nahm, wenn sie die Milch in ihren reinlichen Becken 
besorgte: ach! bei allem, bei allem ängstigte sie immer der Gedanke, daß 
ihre Wiese/ ihr Heustock und ihre halbe Hülte ihnen dald wurden en 
rissen werden, und wenn ihre Kinder um sie her standen und sich an 
ihren Schoß drängten, so war ihre Wehmuth noch größer; allemal flossen 
dann Thränen über ihre Wangen 
Wirth, Lesebuch. VI. 
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