Full text: Deutsches Lesebuch für die sechste Klasse der bayerischen Gymnasien und verwandter Lehranstalten (Klasse 6, [Schülerband])

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3. Griechenland. 
S5 folgt auch der Luftzug im ganzen Archipelagus einer festen Regel 
und jeden Morgen erhebt sich der Nordwind von den thrazischen 
Küsten und weht das ganze Inselmeer hinab. Oft haben diese Winde 
— die Etesien — wochenlang den Charakter eines Sturms und bei 
wolkenlosem Himmel sieht man Schaumwellen, soweit das Auge um¬ 
so schaut; sie sind aber ihrer Gleichmäßigkeit wegen nicht gefährlich, und 
sowie die Sonne sinkt, lassen sie nach. Die See glättet sich, Luft und 
Wasser werden still, bis sich fast unmerklich ein leiser Gegenwind 
erhebt, ein Luftzug aus Süden. Dann löst der Schiffer in Ägina 
seine Barke und wird in wenig Nachtstunden nach dem Piräus 
6s getragen. 
Die Strömungen, die an den Küsten entlang gehen, erleichtern 
die Fahrt in den Golfen und Meersunden; der Flug der Wandervögel, 
die zu bestimmten Jahreszeiten sich wiederholenden Züge der Thunfische 
geben dem Schiffer willkommene Wahrzeichen. Die Regelmäßigkeit 
70 im ganzen Leben der Natur, in Bewegung von Luft und Wasser, der 
milde und menschenfreundlicheCharakter derÄgäischen See trug wesent¬ 
lich dazu bei, daß ihre Bewohner sich mit vollem Vertrauen ihr Hin¬ 
gaben, daß sie auf ihr und mit ihr lebten. Das Meer war ihre Land¬ 
straße, wie der Name Pontos es bezeichnet; die „nassen Pfade" Homers 
75 sind es, welche die Menschen untereinander verbinden. 
Die Flußschiffahrt ist bald zu Ende gelernt, die Seefahrt niemals. 
An Flußufern schleifen sich die Unterschiede der Bewohner ab, das 
Meer bringt das Verschiedenartigste plötzlich zusammen. Es kommen 
Fremde, die unter anderm Himmel, nach andern Gesetzen leben; es 
80 findet ein unendliches Vergleichen, Lernen, Mitteilen statt, und je 
lohnender der Austausch der verschiedenartigsten Landeserzeugnisse ist, 
um so rastloser arbeitet der menschliche Geist den Gefahren des Meeres 
durch immer neue Erfindungen siegreich entgegenzutreten. 
Euphrat und Nil bieten Jahr um Jahr ihren Anwohnern die- 
85 selben Vorteile und regeln ihre Beschäftigungen, deren stetiges Einerlei 
es möglich macht, daß Jahrhunderte über das Land hingehen, ohne 
daß sich in den hergebrachten Lebensverhältnissen etwas Wesentliches 
ändert. Es erfolgen Umwälzungen, aber keine Entwicklungen, und 
mumienartig eingesargt steckt im Tale des Nils die Kultur der Ägypter; 
so sie zählen die einförmigen Pendelschläge der Zeit, aber die Zeit hat 
keinen Inhalt; sie haben Chronologie, aber keine Geschichte im vollen 
Sinne des Wortes. Solche Zustände der Erstarrung duldet der Wellen¬ 
schlag des Ägäischen Meeres nicht, der, wenn einmal Verkehr und 
geistiges Leben erwacht sind, dieselben ohne Stillstand immer weiter 
95 führt und entwickelt. 
Was endlich die natürliche Begabung des Bodens betrifft, so 
bestand in diesem Punkte eine große Verschiedenheit zwischen der öst¬ 
lichen und westlichen Hälfte des griechischen Landes.
	        
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