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B. Lyrisch epische Poesie. VI. Erzählungen, Balladen, Romanzen.
5. Hoch überm Altar prangt und raget
Ein blauer, golddurchwirkter Thron,
Drauf sitzt die reine Maged
Und ihr im Schoß der Sohn.
Hell schimmert rings das schöne,
Das heilige Gerät,
Und alle Farben, alle Töne
Begrüßen sich mit Majestät.
6. Schon kniete brünstig, stillandächtig
Der Kaiser vor dem Hochaltar,
Mit Grafenkronen prächtig
Um ihn die Heldenschar;
Schon fällt vom Spiel der Lichter
Ein rosenfarbner Schein
Auf ihre klaren Angesichter:
Da tritt der Heide keck hinein.
7. Er staunt, als er die stolzen Päre
Mit Karl aus ihren Knie'n erkennt,
Damit sie himmlisch nähre
Das ew'ge Sakrament.
Doch staunt er des nicht minder,
Was man dem Gotte bot;
Nicht Pferde fielen hier noch Rinder,
Sie opferten nur Wein und Brot.
8. Der Priester bot zum Liebesmahle
Die Hostie dem Kaiser dar,
Die ans smaragdner Schale
Sich wandelt wunderbar;
Was alles Volk erquickte
Unter des Brotes Bild,
Ein lebend Kind darin erblickte
Sein Aug', ein Knäblein süß und mild.
°. Er sieht das schöne Kind erlachen,
; . freundlich winken: „Komm zu mir!
will dich glücklich machen
L. selig dort und hier."
Und Jubel füllt die Seelen,
Empfaheud Brot und Wein;
Es dringt ein Lied aus tausend Kehlen
Vom göttlichen Zugegensein.
10. Der Sachse steht betäubt, er faltet
Die Hände fromm, sein Aug' ist naß,
Das hohe Wunder spaltet
Den heidnisch argen Haß.
Hin eilt er, wo der Haufe
Mit frohem Blick ihn mißt:
„Gieb, Karl, dem Wittekind die Taufe,
Daß er umarme dich als Christ!"
40. König Karls Meerfahrt. (1812.)
Von Ludwig Uh land. Gedichte. Stuttgart, 1963.
1. Der König Karl fuhr über Meer
Mit seinen zwölf Genossen;
Zum heil'gen Lande stenert' er
Und ward vom Sturm verstoßen.
2. Da sprach der kühne Held Roland:
„Ich kann wohl fechten und schirmen,
Doch hält mir diese Kunst nicht stand
Vor Wellen und vor Stürmen."
3. Dann sprach Herr Holger aus Dä¬
nemark:
„Ich kann die Harfe schlagen;
Was hilft mir das, wenn also stark
Die Wind' und Wellen jagen?"
4. Herr Oliver war auch nicht froh,
Er sah auf seine Wehre:
„Es ist mir um mich selbst nicht so
Wie um die Alteclere."
5. Dann sprach der schlimme Ganelon,
Er sprach es nur verstohlen:
„Wär' ich mit guter Art davon,
Möcht' euch der Teufel holen!"
6. Erzbischof Turpin seufzte sehr:
„Wir sind die Gottesstreiter;
Komm, liebster Heiland, über daS Meer
Und führ' uns gnädig weiter!"
7. Graf Richard Ohnefurcht hub an:
„Ihr Geister aus der Hölle,
Ich hab' euch manchen Dienst gethan,
Jetzt helft mir von der Stelle!"
8. Herr Naimes diesen Ausspruch that:
„Schon vielen riet ich heuer,
Doch süßes Wasser und guter Rat
Sind oft zu Schiffe teuer."
9. Da sprach der graue Herr Riol:
„Ich bin ein alter Degen
Und möchte meinen Leichnam wohl
Dereinst ins Trockne legen."
10. Es war Herr Gui, ein Ritter fein,
Der fing wohl an zu singen:
„Ich wollt', ich wär' ein Vögelein,
Wollt' mich zu Liebchen schwingen."
11. Da sprach der edle Graf Ga¬
rem:
„Gott helf' uns aus der Schwere,
Ich trink' viel lieber den roten Wein
Als Wasser in dem Meere."