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A. Erzählende Prosa. I. Sagen.
verleihen und Venns allen Liebreiz. Also hatte Jupiter unter der Gestalt eines
Gutes ein blendendes Übel geschaffen und nannte sie Pandora, das heißt die
Allbeschenkte; denn jeder der Unsterblichen hatte dem Mägdlein irgend ein un¬
heilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf führte er die
Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern
lustwandelten. Alle mit einander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie
aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das
Geschenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt,
niemals ein Geschenk vom olympischen Jupiter anzunehmen, damit dem Menschen
kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurückzusenden. Epimetheus,
dieses Wortes,, uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf und
empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher, lebten die Geschlechter
der Menschen, von seinem Bruder beraten, frei vom Übel, ohne beschwerliche
Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr
Geschenk, ein großes Gefäß, mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus
angekommen,„schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäße eine
Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein
einziges Gut war zuunterst in dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf
den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie heraus¬
flattern konnte, und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte
inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei
Tag und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn
Jupiter hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar von Fiebern hielt die
Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen beschleichend,
beflügelte seinen Schritt.
Darauf wandte sich Jupiter mit seiner Rache gegen Prometheus. Er über¬
gab den Verbrecher dem Vulkanus und seinen Dienern, dem Kratos und der
Bia (dem Zwang und der Gewalt). Diese mußten ihn in die scythischen
Einöden schleppen und hier über einen schauderhaften Abgrund an eine Fels¬
wand des Berges Kaukasus mit unauflöslichen Ketten schmieden. Ungern voll¬
zog Vulkanus den Auftrag seines Vaters; er liebte in dem Titanensohne den
verwandten Abkömmling seines Urgroßvaters Uranos, den ebenbürtigen Götter¬
sprößling. Unter mitleidsvollen Worten und von den roheren Knechten ge¬
scholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen. So mußte nun Pro¬
metheus an der freudlosen Klippe hangen, aufrecht, schlaflos, niemals im¬
stande, das müde Knie zu beugen. „Viele vergebliche Klagen und Seufzer
wirst du versenden," sagte Vulkanus zu ihm, „denn Jupiters Sinn ist uner¬
bittlich, und alle, die erst seit kurzer Zeit die Herrschergewalt an sich gerissen,
sind hartherzig." (Jupiter hatte den Kronos, seinen Vater, und mit ihm die
alte Götterdynastie gestürzt und sich des Olymps mit Gewalt bemächtigt. Ja-
petos und Kronos waren Brüder, Prometheus und Jupiter Geschwisterkinder.)
Wirklich sollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder doch dreißigtausend
Jahre dauern. Obwohl laut aufseufzend und Winde, Ströme, Quellen und
Meereswellen, die Allmutter Erde und den allschauenden Sonnenkreis zu Zeu¬
gen seiner Pein aufrufend, blieb er doch ungebeugten Sinnes. „Was das
Schicksal beschlossen hat," sprach er, „muß derjenige tragen, der die unbezwing-
liche Gewalt der Notwendigkeit einsehen gelernt hat." Auch ließ er sich durch
keine Drohungen Jupiters bewegen, die dunkle Weissagung, daß dem Götter¬
herrscher durch einen neuen Ehebund (mit der Thetis) Verderben und Unter¬
gang bevorstehe, näher auszudeuten. Jupiter hielt Wort; er sandte dem Ge-