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Qui studet optatam cursu contingere metam,
Multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit.
Wer ans Ziel will kommen im Lauf, der muß in der Jugend
Vieles erdulden bereits und thun, muß schwitzen und frieren.
Ehrie von Max Wilhelm Götzinger.)
Horaz berührt in seinem Briefe über die Dichtkunst auch die bekannte
Frage, ob Fleiß oder Kunst den Dichter machten oder die Natur. Er stimmt
dafür, daß alle Kunst ohne poetischen Geist nichts fruchte, gesteht aber auch,
daß er nicht einsehe, wie das rohe, ungebildete Talent Erfreuliches und
Schönes schaffen könne; eins müsse das andere unterstützen. Und diese Be—
hauptung erläutert er durch das treffende Gleichnis von dem Jünglinge, der
in der Rennbahn den Preis erringen wollte. Horaz spricht allerdings von
den Leistungen in der Dichtkunst; allein seine Worte lassen sich auf alles
Wissen und Können anwenden, indem sie das Pochen auf das sogenannte
Naturell unbedingt verwerfen und den angestrengten Fleiß empfehlen.
Wiewohl gewöhnlich diejenigen Kinder für besonders beglückt und ge—
segnet gehalten werden, welche sich einer nachsichtigen und schlaffen Erziehung
erfreuen und weder zu Hause noch in der Schule je andere Thränen ver—
gießen als die des Eigensinns: so meinen denn doch andere Leute von Urteil
und Erfahrung, daß eine strenge Zucht zu Hause und in der Schule ein
großes Glück sei.
Jung gewohnt, alt gethan! sagt ein wahres Sprichwort. Ein Knabe,
der von Jugend auf zu einem eisernen Fleiße und zum Einsammeln nützlicher
Wahrheiten angestrengt und zu pünktlicher Ordnung angehalten worden,
wird auch als Mann so fortfahren, wie er begonnen. In dem Augenblicke,
da er anfängt sich zu zeigen, hat er einen Vorrat von nützlichen Wahrheiten
in seiner Macht, und die Gewohnheit hat ihm eine zweite Natur zur Arbeit
gegeben. Eine Wahrheit zeugt die andere, und die Masse derselben wuchert
in seiner Seele mit fortgehendem Glücke. — Einen solchen Reichtum von
Wahrheiten und Kenntnissen wird man aber nie spielend und auf die Art
erlangen, wie viele Kinder erzogen werden. Da soll alles tändelnd gefaßt
werden, und es wird ihnen alles so süß und leicht gemacht! Aber was
kommt bei diesem spielenden Lernen heraus? Süße Gewäsche, leichte Phan—
tasieen, leerer Dunst! Der Geist bleibt schwach, der Kopf hat weder Macht
noch Dauer, und alles sieht so hungrig aus wie die Freigebigkeit eines
alten Geizhalses.
Wer nicht gesäet hat, der kann natürlich auch nicht ernten, und wer
Schlehen gepflanzt hat, der kann nicht verlangen, daß ẽdles Obst darauf
wächst. Der junge Mensch, der sich nun als tüchtiger Mann zeigen soll,
gleicht einem Kaufmanne, welcher eine Handlung durch die ganze Welt an—
fangen will, ohne irgend ein Kapital oder auch nur einmal einen mäßigen
Vorrat von Produkten zu haben. Wie beschämt muß ein solcher Unglück—
licher dastehen, wenn er liest, wie der große Demosthenes, der eine schwache
Brust und eine stotternde Stimme hatte, dem mithin so vieles zum Redner
von der Natur versagt war, daß er bei seinem ersten Auftreten verhöhnt
wurde, wie dieser Mann alle Mängel der Natur und alle Hindernisse der
Persönlichkeit durch beharrliche Anstrengung beseitigte. Er nahm kleine Kiesel
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