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die Glut der Sonne durehdrang die harten grünenden Rörner,
bereitend in ihnen den süssen Saft, den Trank für Götter und
Menschen. NMit reichen Trauben geschmückt neigte bald der Wein-—
stock sich zu seinem Herrn nieder, und dieser kostete seinen
erquickenden Saft und nannte ihn seinen Freund. Die stolzen
Bãume beneideten jetzt die schwanke Ranke, denn viele von ihnen
standen schon entfruchtet da; er aber freute sich seiner sehlanken
Gestalt und seiner harrenden Hoffnung.
Darum erfreut sein Saft noch jetzt des Menschen Herz und
hebt empor den niedergesunkenen Mut und erquiekt den Betrübten.
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus. Im
unansehnlichen Rohre quillt der süsseste Saft; die sohwache Rebe
gebiert Begeisterung und Entzückung.
61. Der Fuchs und der Hahn.
Corenz Kellner.)
Ein hungriger Fuchs hörte in einer kalten Winternacht einen Hahn
auf einem Baume krähen. Ihn gelüstete nach dem Schreier; da er aber
nicht auf den Baum steigen konnte, besann er sich auf eine List. — „Ei,
Hahn!“ rief er hinauf, „wie kannst du nur in dieser kalten Nacht so schön
singen?“ — „Ich verkündige den Tag!“ antwortete der Hahn. „Was,
den Tag?“ rief der Fuchs und stellte sich sehr verwundert, „es ist ja noch
finstere Nacht!“ — „Ei, weißt du denn nicht,“ antwortete der Hahn, „daß
wir den Tag schon im voraus fühlen und seine Nähe durch unsere Stimme
verkündigen?“ — „Das ist gar etwas Göttliches,“ rief der Fuchs, „das
können nur Propheten! O Hahn, wie schön sangst du eben!“ Der Hahn
krähte zum zweiten Mal, und der Fuchs fing unter dem Baume zu tanzen
an. „Warum tanzest du denn?“ fragte der Hahn. Der Fuchs antwortete:
„Du singst, und ich tanze vor Freuden. Dein schöner Gesang ermuntert
mich dazu. Wahrlich, unter den Vögeln bist du der erste. Du übertriffst
sie alle durch dein schönes Gefieder, durch deinen herrlichen Gesang und
dadurch, daß du die Zukunft zu verkündigen vermagst. O, komm her—
unter, bester der Vögel, damit ich dich umarmen und küssen kann!“ Dem
Hahne gefiel das Lob des Schmeichlers so wohl, daß er wirklich vom Baume
herabflog und auf den Fuchs zukam. Da faßte ihn dieser aber und rief
lachend: „Nein, nein, Hahn, du bist kein Prophet; sonst hättest du auch
gemerkt, daß ich dich nicht küssen, sondern nur fressen wollte!“ — Hbre
keinen Schmeichler an; seine Rede gefällt dir vielleicht, stürzt dich aber sicher
ins Verderben.
62. Der Hahn, der Hund und der Puehs.
(WVilhelm Ourtmann.)
Ein Hund und ein Hahn schlossen Preundschaft und wan—
derten zusammen in die Fremde. Rines Abends konnten sie kein
Haus erreichen und mulsten im Walde übernachten. Der Hund
sah endlioh eine hohle Eiche, worin für ihn eine vortreffliche Seohlaf-
kammer war. „Hier wollen wir bleiben,“ sagte er zu seinem