Object: Neues Lesebuch für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Volksschulen

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ich bann nicht mi abscheulicher Mensch mein Lebe» lang? Konnte ich Ivo hl jVuta'W 
wieder ruhig schlafen, könnte ich wohl jemals einem wieder frei inS Angesicht sehen ? 
— Wohl wahr! — Aber ich wäre doch auf einmal ein reicher Herr; könnte Kut¬ 
schen und Pferde halten; könnte schöne Kleider tragen; hätte alle Tage vollauf zu 
essen und zu trinken! — lind wenn ich nun entdeckt würde? — Aber wie könnte ich 
entdeckt werden? ES sicht mich ja keiner. — Keiner? — Sieht denn aber Gott cS 
nicht, der an alle» Orten zugegen ist?-Kannst du jemals wieder zu ihm 
beten, wenn du den Diebstahl wirst begangen haben? Würdest du wohl ru¬ 
hig sterben können? —Bei diesem Gedanken überfiel ihn ein-eiskalter Schau¬ 
der. Nein! sagte er, indem er die Diamanten wieder hinwarf; lieber arm 
und ein gut Gewissen, als reich und ein Bösewicht! Und mit diesen Worten 
eilte er auf eben dem Wege zurück, auf dem er gekommen war. — Die Prin¬ 
zessin, deren Schlafgemach das Nebenzimmer war, hcktte alles dieses mit an¬ 
gehört, und den Knaben selbst beim Mondschein erkannt. Sie ließ am fol¬ 
genden Tage ihn zu sich kommen. — „Höre, Kleiner," sagte sie zu ihm, da 
er zu ihr in'S Zimmer trat, „warum nahmst du denn gestern die Uhr und die 
Diamanten nicht?" —Der Knabe fiel vor ihr auf die Kniee, und konnte vor 
Angst kein Wort sprechen. — „Ich habe alles gehört," fuhr die Prinzessin fort; 
„danke Gott, mein Sohn, daß er dir half, der Versuchung zu widerstehen, 
und bemühe dich ferner, deine Tugend zu erhalten. Von nun an sollst du 
bei mir bleiben; ich will dich ernähren und kleiden lassen. Aber ich will noch 
mehr für dich thun; ich will dich ordentlich unterrichten und erziehen lassen, 
damit dir künftig auch nicht einmal der Gedanke an eine solche That wieder 
einfallen möge. — Dem Knabe» stürzten heiße Thränen aus de» Augen; er 
wollte danken, aber er konnte nicht: er konnte nur schluchzen, und seine Hände 
ringen. — Die Prinzessin hielt, waö sie versprochen hatte. Der Knabe wurde 
wohl erzogen, und seine Wohlthäterin hatte die Freude, ihn zum guten, from¬ 
me» und geschickten Mann aufwachsen zu sehen. 
2t, Die RZittwe zu Zehrn. 
Benbächir, der Kadi oder Richter zu Zehra, begegnete einer Wittwe, 
welche einen Esel vor sich hrrtrieb und weinte. Warum weinst du, armes 
Weib? — „Wohl ein armes Weib," antwortete sie, „dieser Esc!, der leere 
Sack, welcher darauf liegt, und die Kleidung, welche meine Blöße deckt, sind 
der ganze Ueberrest meiner Habe; alles übrige hat mir der Kaliph genommen." 
— Und worin bestand deine übrige Habe? fragte Benbächir verwundert. — 
„Ich besaß eine kleine Meierei; sie war das Erb theil der Vorfahren meines 
verstorbenen Mannes, und uns über alles lieb. 'Noch auf dem Sterbebette 
bat mich mein guter Mann, dafür zu sorgen, daß unser kleines Gut an Nie¬ 
mand anders gelange, als an unsern Sohn, welcher vielleicht in diesem Au¬ 
genblicke im Heere deö Kaliphen sein Blut für einen Herrn vergießt, der seiner 
Mutter alles nimmt." — lind aus welchem Grunde fragte der Kadi, nahm 
dir der Kaliph dein Grundstück? — „Er will sich ein Lustgebäude dahin bauen 
lassen," antwortete die Wittwe. — Guter Gott! dachte der Kadi bei sich 
selbst: er hat so viele Palläste und Lustgcbäudc, und aus de» bloßen Einfall, 
noch einS mehr zu haben, vertreibt er ein armes Weib aus ihrem Eigenthu- 
me!— Und welchen Ersah gab er dir, fragte Benbächir. — „Ersah? keinen!" 
antwortete die Wittwe, „er ließ mir anfänglich eine kleine Summe anbieten» 
wie ich aber daö mir so theure Grundstück nicht verkaufen wollte, nahm er 
mir'S mit Gewalt." — Hast du ihm deine traurige Lage nicht vorgestellt? 
erwiederte der Kadi. — „Ich warf mich vor ihm nieder," antwortete die Witt¬ 
we, „benetzte mit meincn Thränen seine Füße, und bat und flehte — ich sagte 
ihm alles, was mir Schmerz, Kummer und Verzweiflung eingaben." — Sie 
konnte vor Schluchzen nicht fortfahren. — Und dein Bitten vermochte nichts
	        
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