Full text: [Teil 6 = Sekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Sekunda, [Schülerband])

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schaftsscenen, voll idyllischen Friedens, und ruft wohl aus: diesen 
Fleck Erde möcht' ich zur Heimat erwählen, hier meine Hütte bauen, 
hier meine Tage beschließen! Er bedenkt nicht, daß alles Idyllische 
fich schnell erschöpft und geistlos wird, daß in diesen hohen Gegenden 
bald der Winter kommt, der das Tal mit Schnee verschüttet und 
selbst den Wasserfall in starrende Eisnadeln verwandelt. Dann, in 
den dunkeln, kalten Monaten, lebt der Mensch in hölzernen, mit 
Schnitzwerk und alten geistlichen Sprüchen verzierten, braunen 
Wohnungen und trägt Sorge, das Dach wohl mit Steinen zu be— 
lasten, daß es der Sturm, der in diesen Berglöchern fürchterlich rast, 
nicht mit sich fortführe. Die Schweiz ist das Land sauberer, ordent— 
licher, wohlberechneter Hauswirtschaft, die Heimat knochiger, realistisch 
denkender Menschen, die schon frühe den romantischen Adel und mit 
ihm manchen idealen Zug und alle Phantasiegebilde unter sich aus— 
gerottet und sich bürgerlich-republikanisch, nach Gemeinden und Kan— 
tonen, eingerichtet haben. Hart und gewaltsam sind in diesem Lande 
auch die Hochgebirge aufgetürmt, hoch oben öde und sumpfige, mit 
kurzem Gras bewachsene, bald geneigte, bald in sich mulden— 
förmig vertiefte Flächen tragend; von ihren obern Kanten laufen 
die traurigen Halden, lange Streifen grauen Steingerölles, von den 
Schneestürzen hinterlassen, ins Tal; Nebel und Wolken hängen 
an den Flanken und Steinrippen wie die Wolle am Bauch des 
Widders, senken sich zu den schwarzen Fichtengürteln nieder und 
steigen wieder verhüllend und wogend aufwärts zu den kalten Schnee— 
kuppen. Ein Bild form- und schrankenloser Gewalten, beängstigende 
Zeugen uralter elementarer Kämpfe und Naturrevolutionen! 
Von diesem weißen und grünen Winterlande sieht man sich Tags 
drauf, dort wo sich der Abhang der Seealpen zum mittelländischen 
Meere niedersenkt, in ein braunes Sonnen- und Lichtland, in ein 
Land, wo der Naturgeist in Formen gebunden ist, versetzt. und fühlt 
jense.3 der See die Gegenwart der lechzenden, farbenglühenden Wüste. 
Hier t das Himmelsgestirn schon gewaltig, nach dem sich Goethe 
sehnte und dem zu Ehren er auf dem Wege zwischen Bozen und 
Trient jenes Bettelkind, dem der heiße Boden die Füße verbrannte, 
mit in seinen Wagen nahm. Hier ist das wandelbare Wetter, dessen 
Launen wir Nordländer fürchten, schon in das Gesetz der Jahreszeiten 
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