Full text: Gedichtsammlung für höhere Mädchenschulen (1, [Schülerband])

VI 
von Gedichten des 18. und 19. Jahrhunderts, die wir ebenfalls zu dem 
Besten rechnen, was die deutsche poetische Kunst geschaffen, ohne daß sie 
doch nach unserem Dafürhalten gerade auswendig gewußt werden müssen. 
Die ästhetischen Grundsätze, die uns leiteten, sind natürlich hier ganz 
dieselben wie dort. Über sie möchten wir uns daher noch etwas ein¬ 
gehender äußern. 
Leicht kranken solche Sammlungen an innerer Zerfahrenheit; sie 
wollen es meist zu vielen Menschen recht machen. Dem gegenüber ließen 
wir auch diesmal wieder unserem eigenen Subjekte die Entscheidung 
Aber dem bloßen Gefühle durften wir auch nicht unbedingt folgen, wenn 
wir uns durch die verwirrende Fülle des Stoffes hindurchfinden wollten. 
So sagten wir uns denn vor der Feststellung des Kanons: Viele Dichter 
haben Wertvolles geschaffen, und wir haben mehr Wertvolles, als die 
Schule bewältigen kann; beschränken wir uns daher möglichst auf die¬ 
jenigen Dichter, die durch die ganze Summe ihres Schaffens zu un¬ 
sterblichen Führern unseres Volkes geworden sind, und auf solche Volks¬ 
lieder, die wirklich auch heute noch im Munde des sangesfrohen Volkes 
fortleben. Es ist klar, daß der Schule unter diesem Gesichtspunkte gar 
manches schöne Gedicht verloren gehen muß, aber nur so scheint uns 
Festigkeit und Stetigkeit in den Kanon kommen zu können: ein Gewinn, 
der gewiß größer ist als jener Verlust. Nur in ganz wenigen Fällen 
glaubten wir zu Gunsten einzelner besonders schöner Gedichte von jenem 
Grundsätze abweichen zu sollen; es geschah aber stets nur nach langen 
und sorgfältigen Erwägungen. Im allgemeinen beschränken wir uns auf 
Goethe, Schiller, Uhland, Claudius, Chamisso, Geibel, Klop- 
stock, Rückert und das Volkslied. 
Die Sondersammlung für die Oberstufe schien uns dagegen nur so 
weit dem gleichen Grundsätze unterworfen, als sie aus der Vergangen¬ 
heit schöpft; doch wurde der Kreis der Dichter etwas erweitert und auch 
Bürger, Lenau, Platen, Droste-Hülshoff u. a. mit einigen treff¬ 
lichen Stücken eingeführt. Für die Gegenwart aber, die auch hier 
wieder gebührend zu Worte kommen mußte, konnte nur unser persönliches 
Kunsturteil maßgebend sein, da eine objektive, historisch geklärte An¬ 
schauung selbstverständlich noch nicht besteht. Daß Gottfried Keller und 
Conrad Ferdinand Meyer Dichter von bleibendem Werte sind, wird 
freilich schon jetzt niemand bezweifeln; ob sich aber nicht dichterische 
Persönlichkeiten finden, die für unser Volk weit mehr Bedeutung haben 
als z. B. Avenarius, Liliencron und gar Johanna Ambrosius — das 
wollen wir so wenig leugnen, wie es andere Beurteiler mit Sicherheit 
behaupten dürfen. Doch um der notwendigen Beschränkung willen 
haben wir uns auch hier nur an einen kleineren Dichterkreis gehalten. 
In Bezug auf die Wahl des einzelnen Werks kam nur seine 
ästhetische, ethische und nationale Bedeutung in Betracht, niemals sein
	        
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