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von Gedichten des 18. und 19. Jahrhunderts, die wir ebenfalls zu dem
Besten rechnen, was die deutsche poetische Kunst geschaffen, ohne daß sie
doch nach unserem Dafürhalten gerade auswendig gewußt werden müssen.
Die ästhetischen Grundsätze, die uns leiteten, sind natürlich hier ganz
dieselben wie dort. Über sie möchten wir uns daher noch etwas ein¬
gehender äußern.
Leicht kranken solche Sammlungen an innerer Zerfahrenheit; sie
wollen es meist zu vielen Menschen recht machen. Dem gegenüber ließen
wir auch diesmal wieder unserem eigenen Subjekte die Entscheidung
Aber dem bloßen Gefühle durften wir auch nicht unbedingt folgen, wenn
wir uns durch die verwirrende Fülle des Stoffes hindurchfinden wollten.
So sagten wir uns denn vor der Feststellung des Kanons: Viele Dichter
haben Wertvolles geschaffen, und wir haben mehr Wertvolles, als die
Schule bewältigen kann; beschränken wir uns daher möglichst auf die¬
jenigen Dichter, die durch die ganze Summe ihres Schaffens zu un¬
sterblichen Führern unseres Volkes geworden sind, und auf solche Volks¬
lieder, die wirklich auch heute noch im Munde des sangesfrohen Volkes
fortleben. Es ist klar, daß der Schule unter diesem Gesichtspunkte gar
manches schöne Gedicht verloren gehen muß, aber nur so scheint uns
Festigkeit und Stetigkeit in den Kanon kommen zu können: ein Gewinn,
der gewiß größer ist als jener Verlust. Nur in ganz wenigen Fällen
glaubten wir zu Gunsten einzelner besonders schöner Gedichte von jenem
Grundsätze abweichen zu sollen; es geschah aber stets nur nach langen
und sorgfältigen Erwägungen. Im allgemeinen beschränken wir uns auf
Goethe, Schiller, Uhland, Claudius, Chamisso, Geibel, Klop-
stock, Rückert und das Volkslied.
Die Sondersammlung für die Oberstufe schien uns dagegen nur so
weit dem gleichen Grundsätze unterworfen, als sie aus der Vergangen¬
heit schöpft; doch wurde der Kreis der Dichter etwas erweitert und auch
Bürger, Lenau, Platen, Droste-Hülshoff u. a. mit einigen treff¬
lichen Stücken eingeführt. Für die Gegenwart aber, die auch hier
wieder gebührend zu Worte kommen mußte, konnte nur unser persönliches
Kunsturteil maßgebend sein, da eine objektive, historisch geklärte An¬
schauung selbstverständlich noch nicht besteht. Daß Gottfried Keller und
Conrad Ferdinand Meyer Dichter von bleibendem Werte sind, wird
freilich schon jetzt niemand bezweifeln; ob sich aber nicht dichterische
Persönlichkeiten finden, die für unser Volk weit mehr Bedeutung haben
als z. B. Avenarius, Liliencron und gar Johanna Ambrosius — das
wollen wir so wenig leugnen, wie es andere Beurteiler mit Sicherheit
behaupten dürfen. Doch um der notwendigen Beschränkung willen
haben wir uns auch hier nur an einen kleineren Dichterkreis gehalten.
In Bezug auf die Wahl des einzelnen Werks kam nur seine
ästhetische, ethische und nationale Bedeutung in Betracht, niemals sein