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Sie wärmend mit den aufgespreizten Schwingen;
Die Kleinen werden fliegen bald und singen.
Ich stand gefesselt von des Meisters Macht
Und sann gerührt, was er sich wohl gedacht.
Hat er im Bild die Kirche still verehrt,
Wie sie getreu die Kinder schützt und nährt?
Vom Bildner kündet uns die alte Sage:
Im Bilde redet des Gewissens Klage.
Es lebt' ein Mönch, noch einer von den alten,
Von jenen frommen, rührenden Gestalten.
Rein, alle segnend, allen mild und gut,
Wie Frühlingswärme auf den Saaten ruht,
So war sein Herz, so lebten seine Sitten;
Er kränkte niemand und verletzte keinen,
Und flössen Thränen ihm, so sind's die seinen,
Die nächtlich von der bleichen Wange glitten.
Einst geht mit alter Zeit er zu Gerichte,
Und vorwurfsvoll erschreckt ihn die Geschichte,
Wie er, ein Knabe, einst den Wald durchzogen.
Da kam ein Vöglein heim ins Nest geflogen;
An hohen Zweigen hing die Frühlingsbrut,
Das grüne Laub hielt sie in dunkler Hut;
Doch strich der Wind, den grünen Schleier hebend,
Der Knabe sah das Nest am Wipfel schwebend.
Da hob er einen Stein und warf empor,
Zerstört hin fiel die Brut und ihn ergriff,
Daß er es heut' noch hört, der Klagepfiff,
Mit dem im Wald die Mutter sich verlor. —
„O düstrer Groll, der gern den Bau vernichtet,
Wo sich ein Glück auf Erden eingerichtet!"
So klagt der Mönch und kann sich's nicht vergeben,
Daß er den Vögeln brach ihr junges Leben.
Und das Zerstörte wieder aufzubauen,
Hat er das Nest im Felsen ansgehauen.
Oft sah man ihn zu seinem Bilde kehren,
Um seine stille Wehmut dran zu nähren.
Nik. Lenau.