Die sozialen Zustände in Deutschland am Ende des Mittelalters. 135
liches Leben gleichsam wieder von vorne beginnen und es da anknüpfen, wo es
durch Karl den Großen in seiner natürlichen Entwicklung gehemmt worden
war. Und mit deutscher Gründlichkeit hat das deutsche Volk das Versäumte
nachgeholt. Während die andern Völker, die sich zeitig dem Bannkreis des
Universalgedankens entzogen hatten, bereits Nationalstaaten bildeten, mußte
das deutsche Volk zur Form des Einzelstaatentnms zurückkehren, um erst in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Nationalstaat zu gelangen,
den ihm der römische Kaisergedanke verweigert hatte. —
§ 9. Vergegenwärtigt man sich das Gesagte, so wird man begreifen,
daß weder Friedrich III. noch Maximilian noch wer sonst den Gedanken
des römischen Reichs zu vertreten hatte und verfocht, den Gang der Dinge
aufhalten konnte. Auch der gewaltigste Mensch vermag dem Wehen des
Windes nicht Einhalt zu gebieten. Und der Wind wehte beim Ubergang
vom 15. ins 16. Jahrhundert gewaltig. Denn zugleich mit dieser politischen
Umwälzung vollzog sich auch noch eine Wandlung in den Lebens-, Bil-
dungs- und Glaubensverhältnissen des deutschen Volks, um so den Bruch
mit der Vergangenheit zu einem vollständigen zu machen. Jedermann spürte
den Hauch eines neuen Zeitalters und seiner neuen Weltanschauung. Wie
der Frühling, so kam die neue Zeit mit Brausen.
IX. Die Vorboten der Neuzeit.
Kapitel 76.
Die sozialen Zustände in Deutschland am Ende des
Mittelalters.
§ 1. Was zu dieser Zeit am Mark des deutschen Volkes nagte, war
weniger die gegenseitige Eifersucht der Stände (der Fürsten, Ritter und
Reichsstädte) auf politischem Gebiet, als vielmehr der Klassenhaß zwischen
Hoch und Nieder, zwischen Ritter und Städter, zwischen Bauer und Edel-
mann. Fürsten und Reichsstädter kamen finanziell empor, Landadel und
Landbevölkerung kamen in ihren Einkünften zurück, und in den freien
Städten gärte es. Hier wollten die Arbeiter oder Handwerksgesellen den
Zunftzwang aufheben; die Zünfte, d. h. die verschiedenen „ehrsamen" Hand-
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