Full text: (Prosa) (Teil VII - IX in 1 Bande, [Schülerband])

schäften eine besondere Färbung an, wenn sie auf dem Hintergrund 
der Persönlichkeit eines Sokrates aufliegen, in der die übelste Folge 
der Demokratie, die Unfähigkeit des Individuums, sich von der Masse 
zu emanzipieren, eine kräftige Reaktion hervorgerufen hat. Je raffi¬ 
nierter die politische Beredsamkeit, die immer eine Sumpfblüte ist, die 
Kunst ausbildete, die Masse zu überreden, um so mehr bestand So¬ 
krates, der geborene Dialektiker, darauf, daß man ihn von Mann zu 
Mann im Gespräch widerlegte, und um so rücksichtsloser jagte er jeden 
in die Enge, der ihm den Popanz des allgemein gültigen Meinens vor¬ 
hielt. Und hinter der anmutigen, neckischen Oberfläche seiner ironischen 
^elbstzeugnisse lauerte das unerbittliche Streben, die Wahrheit heraus¬ 
zubekommen, die er selbst nicht wußte. Er war durchaus nicht zufrieden 
damit, der Überlegene geblieben zu sein, sondern wollte in der Seele 
dessen, dem er mit seinen Fragen keine Ruhe ließ, den Stachel des 
Zweifels zurücklassen, ob es anging, über die wichtigsten Dinge im 
Widerspruch mit sich selbst selbstzufrieden zu verharren. 
Man hat Sokrates den größten Sophisten genannt; richtiger wäre 
es, ihn den größten Rationalisten unter allen damaligen Vertretern 
der rationalistischen Aufklärung zu nennen. Die Frage nach der Lehr¬ 
barkeit der Tugend fand er vor: die Adelsethik verneinte sie, die 
Aufklärung mußte sie bejahen, weil es ein Postulat der Demokratie 
ist, daß jeder es lernen kann der erste zu sein, und weil jeder Ratio¬ 
nalismus die Wirkung der intellektuellen Erkenntnis überschätzt. Die 
Sophistik war bildungs- und kulturstolz; es ist bezeichnend, daß sie 
das Wort „ungebildet" ausprägt, um das Unsittliche zu bezeichnen; 
nach ihr kann und muß jeder die Sittlichkeit lernen, der in einem 
zivilisierten Staat lebt. Anderseits wurde das immer schwieriger, je 
schärfer die Aufklärung die überlieferten sittlichen Begriffe auf ihr Funda¬ 
ment untersuchte. Hohe Stellung und sittlicher Vorzug waren für die 
Adelsethik identisch. Die Sophisten wollten eine neue Kunst lehren, 
die den Wissenden in den Stand setzte, der erste zu werden, und sind 
sich dabei gar nicht immer bewußt gewesen, daß in dem Tugendbegriff, 
den sie aus der Adelsethik übernahmen, ein doppeltes, das äußere 
Ansehen und die innere Tüchtigkeit, schlummerte. Da sie aber die Über- 
kegenheit der Kritik über den Autoritätsglauben ausnutzten, um per¬ 
sönlich zu imponieren, nicht um Neues zu schaffen, so mußte diese Kritik 
bald darüber aufklären, daß herrschen und tugendhaft sein zwei ver¬ 
schiedene Dinge sind, und die alte Erkenntnis, daß das erste ohne das
	        
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