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„Schäfer," sprach er, „du nennst mich den blutgierigen Räuber,
der ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an deine
Schafe halten, wenn mich hungert; denn Hunger thut weh.
Schütze mich nur vor Hunger; mache mich nur satt, und du
sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich
das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin."
„Wenn du satt bist? Das kann wohl sein," versetzte der
Schäfer. „Aber wann bist du satt? Du und der Geiz werden
es nie. Geh deinen Weg!"
2.
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
„Du weißt, Schäfer," war seine Anrede, „daß ich dir das
ganze Jahr hindurch manches Schaf würgen könnte. Willst du
mir überhaupt jedes Jahr sechs Schafe geben, so bin ich zu¬
frieden. Du kannst alsdann sicher schlafen und die Hunde ohne
Bedenken abschaffen."
„Sechs Schafe?" sprach der Schäfer. „Das ist ja eine
ganze Herde!"
„Nun weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen,"
sagte der Wolf.
„Du scherzest; fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfere
ich kaum im ganzen Jahre dem Pan*)."
„Auch nicht viere?" fragte der Wolf weiter, und der Schäfer
schüttelte spöttisch den Kopf. „Drei? — Zwei?"
„Nicht. ein einziges," fiel endlich der Bescheid. „Denn es
wäre ja wohl thöricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar
machte, vor welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern
kann."
3.
„Aller guten Dinge sind drei," dachte der Wolf und kam
zu einem dritten Schäfer.
„Es geht mir recht nahe," sprach er, „daß ich unter euch
Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrieen
bin. Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man
mir thut. Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in
*) Pan, bei den alten Griechen der Gott der Hirten.