Object: [Tertia, [Schülerband]] (Tertia, [Schülerband])

Krummacher: Die Cedern. Herder: Der Weinstock. Goethe: Die Ceder. 335 
273. Der Weinstock. (1781.) 
Von Johann Gottfried Herder. Werke. Stuttgart und Tübingen, 1828. 
Anm Tage der Schöpfung rühmten die Bäume gegen einander frohlockend ein 
jeglicher über sich selbst. „Mich hat der Herr gepflanzt,“ so sprach die erhabene 
Ceder; Festigkeit und Wohlgeruch, Dauer und Stärke hat er in mir vereint.“ 
„Jehovahs Huld hat mich zum Segen gesetzt,“ so sprach der umschattende 
Palmbaum; „Nutzen und Schönheit hat er in mir vermählet.“ Der Apfelbaum 
sprach: „Wie ein Bräutigam unter den Jünglingen prange ich unter den Bäumen 
des Paradieses.“ Und die Myrte sprach: „Wie unter Dornen die Rose stehe ich 
unter meinen Geschwistern, dem niedrigen Gesträuch.“ So rühmten alle, der Ol— 
und Feigenbaum, selbst die Fichte und Tanne rühmten sich. 
Der einzige Weinstock schwieg und sank zu Boden. „Mir,“ sprach er zu 
sich selbst, „scheint alles versagt zu sein, Stamm und Aste, Blüten und Frucht; 
aber so, wie ich bin, will ich noch hoffen und warten.“ Er sank darnieder, und 
seine Zweige weinten. 
Nicht lange wartete und weinte er; siehe, da trat die Gottheit der Erde, 
der freundliche Mensch, zu ihm. Er sah ein schwaches Gewächs, ein Spiel der 
Lüfte, das unter sich sank und Hilfe begehrte. Mitleidig richtete er's auf und 
schlang den zarten Baum an seine Lauben Froher spielten anjetzt die Lüfte mit 
seinen Reben, die Glut der Sonne durchdrang ihre harten, grünenden Körner, 
bereitend in ihnen den süßen Saft, den Trank für Götter und Menschen. Mit 
reichen Trauben geschmückt, neigte bald der Weinstock sich zu seinem Herrn nieder, 
und dieser kostete seinen erquickenden Saft und nannte ihn seinen Freund. 
Die stolzen Bäume beneideten jetzt die schwache Ranke; denn viele von ihnen 
standen schon entfruchtet da; er aber freute sich seiner schlanken Gestalt und seiner 
ausharrenden Hoffnung. 
Darum erfreut sein Saft noch jetzt des Menschen Herz und hebt den nieder— 
gesunkenen Mut empor und erquicket den Betrübten. 
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus! Im unansehnlichen 
Rohre quillt der süßeste Saft; die schwache Rebe gebiert Begeisterung imd Ent— 
zückung. 
274. Die Ceder. (Um 1773.) 
Von Johann Wolfgang von e s Mornut in en e Bedeutung für unsere und 
Eine Ceder wuchs auf zwischen Tannen; sie teilten mit ihr Regen und Sonnen⸗ 
schein. Und sie wuchs und wuchs über ihre Häupter und schaute weit ins Thal 
umher. Da riefen die Tannen: „Ist das der Dank, daß du dich überhebest, 
dich, die du so klein warst, dich, die wir genährt haben?“ Und die Ceder sprach: 
„Rechtet mit dem, der mich waͤchsen hieß!“ 
Und um die Ceder stunden Dornsträucher. Die ergrimmeten, daß sie so 
herrlich dastund in ihrer Kraft vor dem Antlitz des Himmels, und riefen: „Wehe 
dem Stolzen, er überhebt sich seines Wuchses!“ Und wie die Winde die Macht 
ihrer Äste bewegten und Balsamgeruch das Land erfüllte, wandten sich die 
Dörner und schrieen: „Wehe dem Übermütigen! Sein Stolz braust auf wie 
Wellen des Meeres! Verdirb ihn, Heiliger vom Himmel!“ 
Da nun die Männer kamen vom Meer und die Art ihr an die Wurzel legten, 
da erhob sich ein Frohlocken: „Also strafet der Herr die Stolzen, also demütigt 
er die Gewaltigen!“
	        
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