100 Im Wandel der Jahreszeiten. Aus der Welt der Pflanzen und Tiere.
„Nein, es ist nicht aus!" sagte der Flachs. „Die Sonne scheint
morgen, der Regen tut so gut; ich kann es hören, wie ich wachse, ich
kann fühlen, daß ich blühe. Ich bin der allerglücklichste in der ganzen
Welt!"
Aber eines Tages kamen Leute daher und nahmen den Flachs
beim Kopf und rissen ihn aus mit der Wurzel; das tat weh! Sie
legten ihn in Wasser, als hätten sie ihn ersäufen wollen, und darauf
kam er über Feuer, als hätten sie ihn braten wollen; das war greulich!
„Man kann nicht immer gute Tage haben," sagte der Flachs;
„man muß etwas durchmachen, so wird man klug."
Aber es erging ihm noch ganz schlimm; denn er wurde gerauft
und geröstet, gerungen und geschwungen, gebrochen und gehechelt —
ja, was wußte er davon, wie das alles hieß, was sie mit ihm vorhatten!
And zuletzt kam er sogar auf den Nocken, und da ging's schnurre,
schnurre, rurr! so daß es unmöglich war, die Gedanken dabei zusammen¬
zuhalten.
„Ich bin überaus glücklich gewesen," dachte er bei allen seinen
Qualen. „Man muß sich des Guten freuen, das man genossen hat.
Froh sein, darum gilt's!" und das sagte er noch, als er auf den
Weberstuhl kam, wo er zu einem einzigen Stück schöner Leinwand
wurde — aus all dem Flachs, allen den vielen Pflanzen nur ein ein¬
ziges Stück!
„Das ist ja einzig in seiner Art! Das hätte ich nie gedacht!
Wie mir doch das Glück günstig ist! Ja, die Zaunpfähle, die wußten
wohl Bescheid mit ihrem einfältigen:
„Schnipp! Schnapp! Schnurr!
Wir gehn nach Laus;
das Lied ist aus!"
Das Lied ist noch lange nicht aus, es sängt erst recht an, es ist
ohnegleichen. Äabe ich viel ausstehen müssen, so bin ich denn nun auch
zu etwas dafiir geworden; ich bin ganz unstreitig der glücklichste von
allen! Wie, bin ich nicht so stark und so weich, so weiß und so lang
geworden! Das ist doch ganz etwas anderes als eine Pflanze sein,
selbst wenn man auch blüht! Man wird nicht gewartet und bekommt
nur Wasser, wenn es regnet. Jetzt werde ich dagegen gehörig bedient;
das Mädchen kehrt mich alle Morgen und gibt mir mit der Gießkanne
ein Regenbad alle Abend, ja, die Pastorin selbst hat mir eine Lobrede
gehalten und gesagt, ich sei das beste Stück Leinen im ganzen Kirch¬
spiel. Gewiß, ich kann nicht glücklicher werden, als ich's bin!"