Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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Und tausend Stimmen werden laut: 
»Das ist der Lindwurm/ kommt und schaut, 
®ei’ Hirt und Herden uns verschlungen! 
Das ist der Held, der ihn bezwungen! 
El andre zogen vor ihm aus, 
M wagen den gewalt'gen Strauß, 
Doch keinen sah man wiederkehren; 
Den kühnen Ritter soll man ehren!" 
Ed nach dem Kloster geht der Zug, 
E Sankt Johanns des Täufers Orden, 
Die Ritter des Spitals, im Flug 
3u Rate sind versammelt worden. 
Und vor den edlen Meister tritt 
Der Jüngling mit bescheidnem Schritt; 
Nachdrängt das Volk mit wildem Rufen, 
^füllend des Geländers Stufen. 
Und jener nimmt das Wort und spricht: 
j/äch hab' erfüllt die Ritterpflicht. 
Der Drache, der das Land verödet, 
Ur liegt von meiner Hand getötet; 
^ei ist dem Wanderer der Weg, 
Der Hirte treibe ins Gefilde, 
proh malle auf dem Felsensteg 
Der Pilger zu dem Gnadenbilde." 
Doch strenge blickt der Fürst ihn an 
Und spricht: „Du hast als Held gethan; 
Der Mut ist's, der den Ritter ehret, 
hast den kühnen Geist bewähret. 
Doch sprich! was ist die erste Pflicht 
Des Ritters, der für Christum ficht, 
schmücket mit des Kreuzes Zeichen?" 
Und alle ringsherum erbleichen. 
Doch er, mit edlem Anstand, spricht, 
Undem er sich errötend neiget: 
»Gehorsam ist die erste Pflicht, 
Die ihn des Schmuckes würdig zeiget." 
»Und diese Pflicht, mein Sohn," versetzt 
Der Meister, „hast du frech verletzt. 
Den Kampf, den das Gesetz versaget, 
Hast du mit frevlem Mut gewaget!" 
»Herr, richte, wenn du alles weißt," 
spricht jener mit gesetztem Geist, 
"Denn des Gesetzes Sinn und Willen 
Dermeint' ich treulich zu erfüllen. 
Echt unbedachtsam zog ich hin, 
Das Ungeheuer zu bekriegen; 
Durch List und kluggewandten Sinn 
^ersucht' ich's, in dem Kampf zu siegen. 
Sommer, Deutsches Lesebuch. 4. Aufl. 
„Fünf unsers Ordens waren schon. 
Die Zierden der Religion, 
Des kühnen Mutes Opfer worden; 
Da wehrtest du den Kampf dem Orden. 
! Doch an dem Herzen nagten mir 
Der Unmut und die Streitbegier, 
!Ja, selbst im Traum der stillen Nächte 
Fand ich mich keuchend im Gefechte; 
Und wenn der Morgen dämmernd kam 
Und Kunde gab von neuen Plagen, 
Da faßte mich ein wilder Gram, 
Und ich beschloß, es frisch zu wagen. 
„Und zu mir selber sprach ich dann: 
Was schmückt den Jüngling, ehrt den Mann? 
Was leisteten die tapfern Helden, 
Von denen uns die Lieder melden, 
Die zu der Götter Glanz und Rubm 
Erhub das blinde Heidentum? 
Sie reinigten von Ungeheuern 
Die Welt in kühnen Abenteuern, 
Begegneten im Kampf den Leu'n 
Und rangen mit den Minotauren 
Die armen Opfer zu befrei'n, 
Und ließen sich das Blut nicht dauern. 
„Ist nur der Sarazen es wert, 
Daß ihn bekämpft des Christen Schwert? 
Bekriegt er nur die falschen Götter? 
Gesandt ist er der Welt zum Netter, 
Von jeder Not und jedem Harm 
Befreien muß sein starker Arm; 
Doch seinen Mut muß Weisheit leiten. 
Und List muß mit der Stärke streiten. 
So sprach ich oft und zog allein, 
Des Raubtiers Fährte zu erkunden; 
Da flößte mir der Geist es ein, 
Froh rief ich aus: ick hab's gefunden! 
„Und trat zu dir und sprach dies Wort: 
„„Mich zieht es nach der Heimat fort."" 
Du, Herr, willfahrtest meinen Bitten; 
Und glücklich war das Meer durchschnitten. 
Kaum stieg ich aus am heim'schen Strand, 
Gleich ließ ich durch des Künstlers Hand, 
Getreu den wohlbemerkten Zügen, 
Ein Drachenbild zusammenfügen. 
Auf kurzen Füßen wird die Last 
Des langen Leibes aufgetürmet; 
Ein schuppicht Panzerhemd umfaßt 
Den Rücken, den es furchtbar schirmet. 
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