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96. Der Wolf und die sieben jungen Geißlein.
Die Brüder (Jakob und Wilhelm) Grimm.
Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge
Geißlein und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder
lieb hat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehn und
Futter holen, da rief sie alle sieben herbei und sprach: „Liebe
Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut
vor dem Wolf; wenn er herein kommt, so frißt er euch alle
mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber
an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Füßen
werdet ihr ihn gleich erkennen.“ Die Geißlein sagten: „Liebe
Mutter, wir wollen uns schon in acht nehmen, Ihr könnt
ohne Sorge fortgehn.“ Da meckerte die Alte und machte
sich getrost auf den Weg.
Es dauerte nicht lange, so klopfte jemand an die Hausthür
und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da
und hat jedem von euch etwas mitgebracht.“ Aber die
Geißerchen hörten an der rauhen Stimme, daß es der Wolf
war. „Wir machen nicht auf,“ riefen sie, „du bist unsere
Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme, aber
deine Stimme ist rauh; du bist der Wolf.“ Da ging der
Wolf fort zu einem Krämer und kaufte sich ein großes Stück
Kreide, die aß er und machte damit seine Stimme fein.
Dann kam er zurück, klopfte an die Hausthür und rief:
„Macht auf, r lieben Kinder, eure Mutter t da und hat
jedem von eu; etwas mitgebracht.“ Aber der Wolf hatte
seine schwarze Pfote in das Fenster gelegt, das sahen die Kinder
und riefen: „Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen
schwarzen Fuß wie du; du bist der Wolf.“ Da lief der Wolf
zu einem Baͤcker und sprach: „Lh habe mich an den Fuß
gestoßen, streich mir darüber!“ Und als ihm der Bäcker
die Pfote bestrichen hat⸗. so lief er zum Müller und sprach:
„Streue mir weißes Mehl auf meine Pfote!“ Der Müller
dachte: „Der Wolf will einen betrügen,“ und weigerte sich,
aber der Wolf sprach: „Wenn du es nicht thust, so fress' ich
dich.“ Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote
weiß. Ja, so sind die Menschen!