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102. Von den Engeln.
Rudolf Löwenstein.
. Nun laß dir erzählen, mein liebes Kind,
wie schön die guten Engel sind!
Sie sind so hell von Angesicht
als Erd' und Himmel im Frühlingslicht,
sie haben Augen, gar blau und klar,
und ewige Blumen im goldigen Haar,
und ihre raschen Flügelein,
die sind von silbernem Mondenschein.
Bei Tag und Nacht
schweben die Engel in solcher Pracht.
Nun laß dir erzählen, mein liebes Kind,
wie die Englein fliegen leis' und lind!
So leis' als der Schnee vom Himmel fällt,
so leis' als der Mond zieht über die Welt,
so leis' als der Keim aus der Erde sprießt,
so leis' als der Duft durch die Lüfte fließt,
so leis' als vom Baume weht das Blatt,
so leis' als das Licht über Land und Stadt, —
so leis' und lind
fliegen die Englein, mein liebes Kind.
Nun laß dir erzählen, mein liebes Kind,
wozu die guten Engel sind!
Wo ein Armer betet in seiner Noth,
da bringen sie in das Haus ihm Brot,
wo beim krauken Kinde die Mutter wacht,
da nehmen das Kindlein sie in acht,
und wo in Gefahren ein Guter schwebt,
wo jemand weinet, jemand bebt,
dahin geschwind
gehen die Englein, mein liebes Kind.
Und willit di, mein Kind, die Englein sehn,
das kann auf der Erde wol nicht geschehn;
dech wenn du hier lebest fromm und rein,
wird stets ein Engel um dich sein,
und wenn sich dereinst dein Auge bricht,
du nicht mehr erwachest zum Tageslicht,
dann wirst du ihn schaun, — er winkt dir still,
dann folg' ihm, wohin er dich führen will!
Im Himmelsschein
wirst du dann selber ein Engel sein!
Fibel. C. II