Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

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früher Tod.“ Sie glaubt sich gerettet, um die Retterin ihres Hauses 
zu werden: dies sei ihre geheimnisvolle Sendung, die nur erfüllt 
werden könne, wenn sie die eigene Seele rein und schuldlos erhalte. 
Sie fleht zu ihrer Göttin: 
So gieb auch mich den Meinen endlich wieder 
Und rette mich, die du vom Tod errettet, 
Auch von dem Leben liier, dem zweiten Tode 1 
Sie bittet den König: 
Lass mich mit reinem Herzen, reiner Hand 
Hinübergehn und unser Haus entsühnen. 
Wie tief sie den Gedanken einer solchen Sendung in ihrem 
Innersten gehegt hat und hegt, sagen in dem Selbstgespräch, 
welches ihrer letzten Unterredung mit Pylades folgt, die Worte: 
So hofft’ ich denn vergebens hier verwahrt, 
Von meines Hauses Schicksal abgeschieden, 
Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen 
Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen! 
Seit Tantalus trägt ihr Geschlecht den Hass der Götter. Diese 
ihrem Hause wieder zu versöhnen, ist die erlösende That, zu der 
Iphigenie sich berufen glaubt; hat sie doch durch die eigene Rettung 
erfahren, dass die Götter gut und menschenfreundlich, darum auch 
versöhnlich sind. 
Ihr Vertrauen auf die Güte und Menschenfreundlichkeit der 
Götter stärkt das Gefühl ihrer Sendung und die Hoffnung auf deren 
Erfüllung. Wenn dieser Glaube sie täuschte! Wenn jener Fluch, 
der den Tantalus getroffen und in seinem Geschlechte fortgewirkt 
hat, auch sie ergriffe und nötigte, um den Prüder zu retten, etwas 
Fluchwürdiges zu thun, dann wären die Götter unversöhnlich und 
nur fürchterlich. Vor ihren Ohren tönt das alte Lied der Parzen, 
„das sie grausend sangen, als Tantalus vom goldnen Stuhle siel“: 
Es fürchte die Götter 
Das Menschengeschlecht! 
Wer wird Recht behalten? Der Glaube und die Hoffnung 
Iphigeniens in ihrem Gebet an die Göttin oder jenes alte Parzen¬ 
lied. welches sie schon vergessen hatte, und das ihr unwillkürlich 
in den Sinn kommt, da sie; von Pylades gedrängt, den Bruder 
retten soll, indem sie den Tboas betrügt? Mit dem Gebet schliefst 
der erste, mit dem Parzenlied der vierte Akt unseres Schauspiels, 
der letzte bringt die Entscheidung. Man könnte das ganze Thema 
der Dichtung und auch deren Gliederung in die Form dieser Frage fassen.
	        
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