Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

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in ihrem Brennpunkte vollkommen hervor. Konnte für ein Refekto¬ 
rium etwas schicklicher und edler ausgedacht werden als ein 
.Scheidemahl, das der ganzen Welt für alle Zeiten als heilig 
gelten sollte? 
Als Reisende haben wir dieses Speisezimmer vor manchen 
Jahren noch unzerstört gesehen. Dem Eingang an der schmalen 
Seite gegenüber, im Grunde des Saales, stand die Tafel des Priors,, 
zu beiden Seiten die Mönchstische, sämtlich auf einer Stufe vom 
Boden erhöht, und nun. wenn der Hereintretende sich umkehrte, 
sah er an der vierten Wand über den nicht allzu hohen Thüren, 
den vierten Tisch gemalt, an demselben Christum und seine Jünger, 
eben als wenn sie zur Gesellschaft gehörten. Es muss zur Speise¬ 
stunde ein bedeutender Anblick gewesen sein, wenn die Tische des 
Priors und Christi als zwei Gegenbilder aufeinander blickten und 
die Mönche an ihren Tafeln sich dazwischen eingeschlossen fanden. 
Und eben deshalb musste die Weisheit des Malers die vorhandenen 
Mönchstische zum Vorbild nehmen. Auch ist gewiss das Tischtuch 
mit seinen gequetschten Falten, gemusterten Streifen und aufge¬ 
knüpften Zipfeln aus der Waschkammer des Klosters genommen, 
Schüsseln, Teller, Becher und sonstiges Geräte gleichfalls denjenigen 
nachgeahmt, deren sich die Mönche bedienten. Hier war also 
keineswegs die Rede von Annäherung an ein unsicheres, veraltetes 
Kostüm. Höchst ungeschickt wäre es gewesen, an diesem Orte 
die heilige Gesellschaft auf Polster auszustrecken. Nein, sie sollte 
der Gegenwart angenähert werden, Christus sollte sein Abendmahl > 
bei den Dominikanern zu Mailand einnehmen. Auch in manchem 
andern Betracht musste das Bild grosse Wirkung thun. Ungefähr 
zehn Fuss über der Erde nehmen die dreizehn Figuren, sämtlich 
etwa anderthalbmal die Lebensgrösse gebildet, den Raum von acht- 
undzwanzig Pariser Fuss der Länge nach ein. Nur zwei derselben 
sieht man ganz an den entgegengesetzten Enden der Tafel, die 
übrigen sind Halbiiguren, und auch hier fand der Künstler in der 
Notwendigkeit seinen Vorteil. Jeder sittliche Ausdruck, gehört nur 
dem oberen Teil des Körpers an, und die Füsse sind in solchen 
Fällen überall im Wege; der Künstler schuf sich hier elf Halbiiguren, 
deren Schoss und Knie von Tisch und Tischtuch bedeckt wird, 
unten aber die Füsse im bescheidenen Dämmerlicht kaum bemerklieh 
sein sollten.
	        
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