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Nun versetze man sich an Ort und Stelle, denke sich die
sittliche, äussere Ruhe, die in einem solchen mönchischen Speisesaale
obwaltet, und bewundere den Künstler, der seinem Bilde kräftige
Erschütterung, leidenschaftliche Bewegung einhaucht und, indem er
sein Kunstwerk möglichst an die Natur herangebracht hat, es also-
bald mit der nächsten Wirklichkeit in Kontrast setzt.
Das Aufregungsmittel, wodurch der Künstler die ruhig-heilige
Abendtafel erschüttert, sind die Worte des Meisters: „Einer ist
unter euch, der mich verrät!“ Ausgesprochen sind sie, die ganze
Gesellschaft kommt darüber in Unruhe; er aber neigt sein Haupt
gesenkten Blickes; die ganze Stellung, die Bewegung der Arme,
der Hände, alles wiederholt mit himmlischer Ergebenheit die
unglücklichen Worte, das Schweigen selbst bekräftigt: „Ja, es ist
nicht anders! Einer ist unter euch, der mich verrät.“ Ehe wir
aber weiter gehen, müssen wir ein grosses Mittel entwickeln, wodurch
Leonardo dieses Bild hauptsächlich belebte: es ist die Bewegung
•der Hände; dies konnte aber auch nur ein Italiener finden. Bei
•seiner Nation ist der ganze Körper geistreich, alle Glieder nehmen
teil an jedem Ausdrucke des Gefühles, der Leidenschaft, ja des
Gedankens. Durch verschiedene Gestaltung und Bewegung der
Hände drückt er aus: „Was kümmert's mich!“ — „Komm her:“
— „Dies ist ein Schelm — nimm dich in acht vor ihm!“ —
„.Er soll nicht lange leben!“ — „Dies ist ein Hauptpunkt! Dies
merket besonders wohl, meine Zuhörer!“ Einer solchen National-
-eigenschaft musste der alles Charakteristische höchst aufmerksam
betrachtende Leonardo sein forschendes Auge besonders zuwenden;
hieran ist das gegenwärtige Bild einzig, und man kann ihm nicht
genug Betrachtung widmen. Vollkommen übereinstimmend ist die
Gesichtsbildung und jede Bewegung, auch dabei eine dem Auge
gleich fassliche Zusammen- und Gegeneinanderstellung aller Glieder
auf das lobenswürdigste geleistet.
Die Gestalten überhaupt zu beiden Seiten des Herrn lassen
sich drei und drei zusammen betrachten, wie sie denn auch so
jedesmal in eins gedacht, in Verhältnis gestellt und doch in Bezug
auf ihre Nachbarn gehalten sind. Zunächst an Christi rechter
Seite Johannes, Judas und Petrus.
Petrus, der Entfernteste, fährt nach seinem heftigen Charakter,
als er des Herrn Wort vernommen, eilig hinter Judas her, der