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Ungarn nicht einzudringen vermochten. König Heinrich aber sammelte seine
mutigen Krieger um sic und ermunterte sie zur Schlacht. „Gedenket des
Elends.“ rief er, „das die wilden Feinde über euch gebracht; gedenket daran,
wie e euere Hütten verbrannt, euere Habe geraubt, eure Frauen und
Kinder gemordet, euere Kirchen und Altäre zerstört haben. Krieger, der Tag
der Vergeltung ist gekommen. Seid Männer und betet zu dem dort oben, der
Hülfe sendet in der Stunde der Not!“ Und Gott sandte Hülfe. Nicht
deit von der Stadt Merseburg in Sachsen kam es zur Schlacht. Der König
selbst führte seine Scharen zum Kampfe; vor ihm flatterte die große Reichs—
fahne mit dem Bilde des Erzengels Michael. Und als nun das wohl- 10
bewaffnete, stattliche Heer mutvoll gegen die Raubhorden losstürmte, da war
der Sieg bald entschieden. So schnell sie konnten, ergriffen die erschrockenen
Feinde die Flucht. Aber Heinrich war rasch hinter ihnen her und ließ alle,
welche Widerstand leisteten, niederhauen, die Gefangenen aber als Räuber
und Mörder an den Bäumen aufknüpfen. Das Lager der Ungarn samt allem 1
Raube, den sie dort zusammengeschleppt hatten, fiel in die Hände der Deutschen.
Da sank der fromme Heinrich samt seinem ganzen Heere auf die Kniee und
dankie Gott für den herrlichen Siegl Das deutsche Volk aber frohlockte und
pries seinen König als Retter und Vater des Vaterlandes. Und durch alle
Lande verbreitete sich der Ruf von Heinrichs Tugend und Tapferkeit. Denn »
er war es, der Deutschland aus schwerer Bedrängnis wieder aufgerichtet und
zu Macht und Ehren gebracht hatte.
78. Der frohe Wandersmann.
v. Eichendorff.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Die Bächlein von den Bergen springen,
Den schickt er in die weite Welt; Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
Dem will er seine Wunder weisen Was sollt' ich nicht mit ihnen singen 25
In Berg und Wald und Strom und Feld. Aus voller Kehl' und frischer Brust?
Den lieben Gott laß' ich nur walten;
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd' und Himmel will erhalten,
Hat auch mein' Sach' aufs best' bestellt.
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79. Betrachtungen über ein Vogelnest.
Hebel.
Wenn der geneigte Leser ein Finkennest in die Hand nimmt und be—
trachtet es, was denlt er dazu? Getraut er sich auch so eins zu stricken,
und zwar mit dem Schnabel und mit den Füßen? Ich glaub' es schwerlich.
Ja, ich will zugeben: der Mensch vermag viel. Ein geschickter Künstler mit
zwanzig feinen, künstlichen Instrumenten kann nach vielen mißlungenen Ver— 36
fuchen zuletzt etwas herausbringen, das einem Finkennest gleich sieht, und
allä, die es sehen, können es von einem wirklichen Nest, das der Vogel
gebaut hat, nicht unterscheiden. Alsdann bildet sich der Künstler etwas ein
Und meint, er sei auch ein Fink. Guter Freund, dazu fehlt noch viell
Und wenn ein wahrer Fink, wie du jetzt auch einer zu sein glaubst, dazu 10