Full text: Lesestoff der sechsten Klasse (Untersekunda) (Teil 1, [Schülerband])

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Doch schweigend blickt der Jüng¬ 
ling nieder, 
Still legt er von sich das Gewand 
Und küßt des Meisters strenge Hand 
Und geht. Der folgt ihm mit dem 
Blicke, 
Dann ruft er liebend ihn zurücke 
Und spricht: „Umarme mich, mein 
Sohn! 
Dir ist der härtre Kampf gelungen. 
Nimm dieses Kreuz! Es ist der 
Lohn 
Der Demut, die sich selbst be¬ 
zwungen." 
, Die Kraniche m Tbykus1) 
' ■j}~~ v^i von Friedrich Schiller. 
1 Zum Kamps der Wagen und 
Gesänge, 
Der auf Korinthus' Landesenge 
Der Griechen Stämme froh vereint, 
Zog Jbykus, der Götterfreund. 
Ihm schenkte des Gesanges Gabe, 
Der Lieder süßen Mund Apoll; 
So wandert' er an leichtem Stabe 
Aus Rhegium, des Gottes voll. 
2 Schon winkt auf hohem Berges¬ 
rücken 
Akrokorinth des Wandrers Blicken 
Und in Poseidons Fichtenhain 
Tritt er mit frommem Schauder 
ein. 
Mchts regt sich um ihn her; nur 
Schwärme 
Von Kranichen begleiten ihn, 
Die fernhin nach des Südens 
Wärme 
In graulichtem Geschwader ziehn. 
3 „Seid mir gegrüßt, befreundete 
Scharen, 
Die mir zur See Begleiter waren! 
Zum guten Zeichen nehm' ich euch. 
Mein Los, es ist dem euren gleich; 
Von fernher kommen wir gezogen 
Und flehen um ein wirtlich Dach. 
Sei uns der Gastliche gewogen, 
Der von dem Fremdling wehrt die 
Schmach!" 
4 Und munter fördert er die Schritte 
Und sieht sich in des Waldes 
Mitte; 
Da sperren auf gedrangem Steg 
Zwei Mörder plötzlich seinen Weg. 
Zum Kampfe muß er sich bereiten, 
Doch bald ermattet sinkt die Hand; 
Sie hat der Leier zarte Saiten, 
Doch nie des Bogens Kraft ge¬ 
spannt. 
5 Er ruft die Menschen an, die Götter, 
Sein Flehen dringt zu keinem 
Retter; 
Wie weit er auch die Stimme 
schickt, 
Nichts Lebendes wird hier erblickt. 
„So muß ich hier verlassen sterben, 
Auf fremdem Boden, unbeweint, 
Durch böser Buben Hand ver¬ 
derben, 
Wo auch kein Rächer mir erscheint!" 
0 Jbykus war ein griechischer Lyriker, der um 530 lebte. S. auch S. 83.
	        
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