Full text: Lesestoff der sechsten Klasse (Untersekunda) (Teil 1, [Schülerband])

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kannibal 
Von Theodor Mommsen. 
Als Hasdrubal im Anfang des Jahres 534 von Mörderhand gefallen 
war, beriefen die karthagischen Offiziere des spanischen Heeres an feine Stelle 
Hamilkars ältesten Sohn, den Hannibal. Er war noch ein junger Mann, 
geboren 505*), also damals im nennundzwanzigsten Lebensjahre; aber er 
hatte schon vielMebt. Seine ersten Erinnerungen zeigten ihm den Vater 5 
im entlegenen Lande fechtend und siegend auf derMrkte; er hatte den Frieden 
des Catulus, die bittere Heimkehr des unbesiegten Vaters, die Greuel des 
lybischen Krieges mit durchempfunden. Noch ein Knabe war er dem Vater 
ins Lager gefolgt; bald zeichnete er sich aus. Sein leichter und festgebauter 
Körper machte aus ihm einen vortrefflichen Läufer und Fechter und einen 10 
verwegenen Galoppreiter; Schlaflosigkeit griff ihn nicht an und Speise 
wußte er nach Soldatenart zu genießen und zu entbehren. Trotz seiner im 
Lager verflossenen Jugend besaß er die Bildung der vornehmen Phönikier 
jener Zeit; im Griechischen brachte er, wie es scheint, erst als Feldherr unter 
der Leitung seines Vertrauten Sosilos von Sparta es weit genug um Staats-15 
schristen in dieser Sprache selber abfassen zu können. Wie er heranwuchs, 
trat er in das Heer seines Vaters ein um unter dessen Augen seinen ersten 
Waffendienst zu tun, um ihn in der Schlacht neben sich fallen zu sehen. Nach¬ 
her hatte er unter seiner Schwester Gemahl Hasdrubal die Reiterei befeh¬ 
ligt und durch glänzende persönliche Tapferkeit wie durch sein Führertalent 20 
sich ausgezeichnet. Jetzt ries ihn, den erprobten jugendlichen General, die 
Stimme seiner Kameraden an ihre Spitze und er konnte nun ausführen, 
wofür sein Vater und sein Schwager gelebt und gestorben. Er trat die Erb¬ 
schaft an und durfte es. Seine Zeitgenossen haben auf seinen Charakter 
Makel mancherlei Art zu werfen versucht: den Römern hieß er grausam, 25 
den Karthagern habsüchtig; freilich haßte er, wie nur orientalische Naturen 
zu hassen verstehen, und ein Feldherr, dem niemals Geld und Vorräte aus¬ 
gegangen sind, mußte wohl suchen zu haben. Indes wenn auch Zorn, 
Neid und Gemeinheit seine Geschichte geschrieben haben, sie haben das reine 
und große Bild nicht zu trüben vermocht. Von schlechten Erfindungen, 30 
die sich selber richten, und von dem abgesehen, was durch Schuld seiner Unter¬ 
feldherrn, namentlich des Hannibal Monomachos und Mago des Samniten, 
in seinem Namen geschehen ist, liegt in den Berichten über ihn nichts vor, 
was nicht unter den damaligen Verhältnissen und nach dem damaligen Völker¬ 
recht zu verantworten wäre; und darin stimmen sie alle zusammen, daß 35 
er wie kaum ein anderer Besonnenheit und Begeisterung, Vorsicht und Tat- 
*) nach anderen 507 (— 246).
	        
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