105
reichsten vorkommen. Besonders Morgens schon vor Sonnenaufgang erfüllt
ihr Geschrei überall die Luft; aber ihre Farbe zeigen sie am prachtvollsten
Nachmittags und gegen Sonnenuntergang, wenn sie flatternd umher ziehen.
Im Strom selbst aber beginnt um diese Zeit wieder das Leben der Krokodile,
Delphine, Schildkröten und der pira rucu. Zur Zeit der Sandbänke, der
prayas, wie man wohl in kurzem Ausdruck die Zeit tiefen Wasserstandes
nennt, ziehen die Anwohner des Amazonenstroms behufs der Jagd in ganzen
Gesellschaften aus den schattigen Kakaogebüschen hervor, und schlagen, trotz
der brennenden Sonne, auf kahlem Sande ihre Palmenhäuschen auf. Nun
beginnt die Jagd auf den Rothfisch, die pira rmm, einen langgestreckten
6—8' langen und 150—200 Pfund schweren Fisch, der im Amazonenstrom
in außerordentlicher Menge vorkommt, eigenthümlich gekennzeichnet durch eine
schön rothe Streifeneinfassung auf den freien Schuppenrändern, wodurch der
silbergraue Fisch das Ansehen gewinnt, als ob er in einem rothen Netz steckte.
Mit Bogen und ganz besonderen Pfeilen wird er zu Tausenden erlegt. Sein
Fleisch wird gesalzen und auf Latten über dem heißen Sande gedorrt wie
unser Stockfisch, und in ganzen Ladungen bis nach Para verschifft, wo er
selbst den nordischen Stockfisch vom Markte verdrängt. Den bei weitem be¬
deutendsten Jagdartikel am Strom bilden aber die Schildkröten, und nament¬
lich das Suchen der Schildkröteneier zur Zeit des Eierlegens im Oktober so
wie das Bereiten der sogenannten Schildkrötenbutter aus diesen Eiern bildet
eine Art Erntezeit. So gewaltig war ehedem die Eiervernichtung, daß zu
einem sogenannten Topf dieser Schildk enbutter 4000 Eier verwandt wurden
und daß in lebhaften Handelszeiten Mch 60,000 Töpfe den Strom ab¬
wärts gingen. Und doch mag dat nur die Hälfte des Eierconsums sein.
Die andere Hälfte geschieht an O ■ und Stelle durch die Anwohner, die
Raubthiere und die Vögel u. s. w Mitten im besten Jagen und Trocknen
bes Rothfisches auf fester Sandb k erschallt manchmal urplötzlich der Ruf:
Eingeschifft! und Alles stürzt zu den Kähnen. Keinen Feind erblickt man,
kein reißendes Thier. Aber die ganze eben noch so sichere, so trockene Sand¬
bank wird feucht, löst sich auf und sinkt langsam in die Tiefe mit allem,
was darauf stand. Verdrießlich rudert der Indianer zur nächsten Praya,
und beginnt dort von neuem seine Beschäftigung im Fangen und Zubereiten
von Fischen und Schildkröten.
Noch liegt diese Riesengestalt eines Stromes, der in der alten Welt
uicht nur ganz Europa von Westen nach Osten durchziehen, sondern etwa erst
kw Aralsee sein Ende finden würde, fast ungebändigt von der Herrschaft des
Menschen, ausgestreckt durch die am reichsten ausgestattete Mitte der süd-
uwerikanischen Tropenwelt, größtentheils unbekannt, unerforscht, gleich dem
Innern Afrikas. Welche glänzenden Aussichten eröffnen sich aber, wenn ein¬
mal die Ufer des majestätischen Stromes, der, von keinen Fällen unterbrochen,
wäßige Geschwindigkeit mit großer Tiefe verbindet und daher der Dampf
Schifffahrt ein weites und glänzendes Feld bietet, mit volkreichen Städten
besetzt sind, wenn Heerstraßen, von der Hauptstadt Peru's über die Anden nach
bem Maranhao geführt, beide Oceane verbinden, wenn die jetzt einsam -
Melancholischen Wälder am Cassiquiari vom Rufe der Schiffer widerhallen,
bie aus dem Orinoco in den Amazonas hinabfahren — wenn die Civilisation
aus dem reichsten Lande der Welt das geschaffen haben wird, wozu es alle
Bedingungen in sich trägt: ein Vaterland glücklicher Menschengeschlechter, bei
benen Thätigkeit und Genuß sich gegenseitig lohnen!