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5 Der Philosoph und die Sonne.
(Von Matthias Claudius.)
Der Philosoph.
„Tu edler Stern, am hohen Himmelszelt,
Du Herr und König deiner Brüder,
Du bist so gut gesinnt — du wärmest uns die Welt,
Und schmückst mrt Blumen uns das Feld,
5 Und machst den Bäumen Laub, den Vögeln bunt Gefieder;
Du machst uns Gold, das Wunderding der Welt,
Und Diamant und seine Brüder;
Kommst alle Morgen fröhlich wieder
Und schüttelst nnmer Strahlen nieder;
10 Sprich, edler Stern am hohen Himmelszelt,
Wie wachsen dir die Strahlen wieder? '
Wie wärmest du? Wie schmückst du Wald und Feld?
Wie machst du doch in aller Welt
Dem Diamant sein Licht, dem Pfau sein schön Gefieder?
15 Wie machst du Gold? Sprich, liebe Sonn', ich wüßt es gern?"
Die Sonne.
„Weiß ich's? Geh', frage meinen Herrn!"
6. Das Johanniswürmchen *).
(Von Gotti. Konr. Pfcffel.)
1. Ein Johanniswürmchen saß,
Seines Demantscheines
Unbewußt, im weichen Gras
Eines Bardenhains.
,2. Leise schlich aus faulem Moos
Sich ein Ungethüm,
Eine Kröte, her und schoß
All ihr Gift nach ihm.
3. „Ach, was hab' ich Dir gethan?"
Ries der Wurm ihr zu.
„Ei!" fuhr ihn das Unthier an,
„Warum glänzest Du?"
7. Die Stufenleiter1 2)
(Von Gottlieb Konrad Pfeffel.)
1. Ein Sperling fing auf einem Ast
Tie fettste Fliege. Weder Streben
Noch Jammern hals; sie ward gefaßt.
"2lch, ries sie flehend, laß mich leben!"—
^Nein, sprach der Mörder, du bist mein!
Tenn ich bin groß, und du bist klein.";
2. Ein Sperber fand ihn bei dem Schmaus,
leicht wird nie ein Spatz gefangen,.
Uls unser Spatz: „Gieb, rief er aus,
Ech frei! Was hab'ich denn begangen?"
L-iiem, sprach der Mörder, du bist mein;
Tenn ich bin groß, und du bist klein."
3. Ein Adler sah den Sperber, schoß
Auf ihn herab und riß den Rücken
Ihm auf. „Herr König, laß mich los,
Rief er, du hackst mich ja in Stücken."—-
„Rein, ries der Mörder, du bist mein!
Denn ich bin groß, und du bist klein."
4. Er schmauste noch, da kam im Nu
Ein Pfeil ihm in die Brust geflogen.
„Tyrann, rief er dem Jäger zu,
Warum ermordet mich dem Bogen?" —
„Ei, sprach der Mörder, du bist mein;
Denn ich bin groß und du bist klein."
tzr. Zeus und das Schaf.
(Von Friedr. Adolf Krummacher.)
Vollendet hatte Zeus das Schöpsungswerk.
Auf seiner Tatze lag der Löw' und schlief.
Der Elephant hob drohend seinen Rüssel,
Ein Eber wetzte seinen Zahn, der Stier
5 Wies seines Hornes Kraft mit wildem Blick.
Rings um den Igel starrt' ein Stachelwald.
a. *J lsotzlnger (Deutsche DichterI. 161) deutet diese Fabel auf den Dichter und
Linker, gibt aber auch eine allgemeinere Deutung zu. Welche wird diese sein?
2) Welcher Erfahrungssatz soll veranschaulicht werden? Vgl. Götzinger, a.a.0.1.153.