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Johann Gottfried Herder.
erkennen lassen? Wie viel Personen sind wohl in der Geschichte so allgemein
bekannt, daß man sie nur nennen dürfte, um sogleich bei einem jeden den
Begriff von der ihnen zukommenden Denkungsart und andern Eigenschaften
zu erwecken? Die umständliche Charakterisierung daher zu vermeiden, bei
welcher es doch noch immer zweifelhaft ist, ob sie bei allen die nämlichen
Vorstellungen hervorbringt, war man gezwungen, sich lieber in den kleinen
Kreis derjenigen Wesen einzuschränken, von denen man es zuverlässig weiß,
daß auch bei den Unwissendsten ihren Benennungen diese und keine andere Vor¬
stellung entspricht. Und weil von diesen Wesen die wenigsten ihrer Natur
nach geschickt waren, die Rollen freier Wesen über sich zu nehmen, so er¬
weiterte man lieber die Schranken ihrer Natur und machte sie unter gewissen
wahrscheinlichen Voraussetzungen dazu geschickt.
Man hört: Britanniens und Nero. Wie viele wissen, was sie
hören? Wer war dieser? Wer war jener? In welchem Verhältnisse stehen
sie gegeneinander? — Aber man hört: der Wolf; das Lamm; sogleich
weiß jeder, was er höret, und weiß, wie sich das eine zu dem anderen
verhält. Diese Wörter, welche stracks ihre gewissen Bilder in uns erwecken,
befördern die anschauende Erkenntnis, die durch jene Namen, bei welchen
auch die, denen sie nicht unbekannt sind, gewiß nicht alle vollkommen eben
dasselbe denken, verhindert wird. Wenn daher der Fabulist keine ver¬
nünftigen Wesen auftreiben kann, die sich durch ihre bloßen Benennungen
in unserer Einbildungskraft schildern, so ist es ihm erlaubt und er hat
Fug und Recht, dergleichen unter den Tieren oder unter noch geringeren
Geschöpfen zu suchen. Man setze in der Fabel von dem Wolfe und dem
Lamme anstatt des Wolfes den Nero, anstatt des Lammes dem Bri¬
tanniens, und die Fabel hat auf einmal alles verloren, was sie zu einer
Fabel für das ganze menschliche Geschlecht macht.
Johann Gottfried Herder.
22. Nacht und Tag.
Sämtliche Schriften. Herausg. von Bernh. Suphan. Berlin. 1877. Weidmannsche Buchh. 28. Bd.
Nacht und Tag stritten miteinander um den Vorzug; der feurige,
glänzende Knabe, Tag, sing an zu streiten.
„Arme, dunkle Mutter," sprach er, „was hast du wie meine Sonne,
wie meinen Himmel, wie meine Fluren, wie mein geschäftiges, rastloses
Leben? Ich erwecke, was du getötet hast, zum Gefühl eines neuen Da¬
seins; was du erschlafftest, rege ich auf." —
„Dankt man dir aber auch immer für deine Aufregung?" sprach die
bescheidne, verschleierte Nacht. „Muß ich nicht erquicken, was du ermattest?