Full text: [Teil 6 = Klasse 4 (7. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 6 = Klasse 4 (7. Schuljahr), [Schülerband])

81 
Schachen war, sah sie hoch an der Lehne ein Gehöft. Unterwegs 
steilan fragte der Vater seine Ehegesponsin, wieviel Schinkenbrot 
sie eigentlich mitgehabt und verloren habe? Wieviel Uhr es etwa 
sein möchte? Warum sie an so einem Tag ihre Taschenuhr zu 
Hause gelassen? Ob der Kanarienvogel daheim in seinem Bauer 
wohl versorgt wäre mit Futter und Wasser? Als die Frau derlei 
Fragen schnaufend beantwortet, ries er ihr ebenso schnaufend zu: 
„Daß die Weibsbilder aber den Mund schon einmal gar nicht 
halten können! Schwatzen sollst nicht, beim Bergsteigen, sage ich!" 
Endlich waren sie am Gehöft. Das lag breit und behäbig da, 
und weil sie weder sprechen durften noch konnten, so dachten sie 
sich ihr Gottlob, und daß sie doch endlich was würden zu essen 
bekommen. Die Tore der Stallungen und Scheunen standen offen, 
und auch die Haustür, zu sehen aber war kein lebendiges Feder¬ 
lein. Sie gingen in das luftige Vorgelaß, in die große, dumpfige 
Stube, dort setzten sie sich auf die Bank und hörten, daß es toten¬ 
still war, und sahen, daß niemand zu sehen war. Der Herr Vater 
ging zuerst im Hause herum, ging' in den Ställen und Stadeln 
herum und suchte Leut. Er fand niemand. Dann ging die Frau 
Mutter in die Küche, machte einen großen Kasten auf und fand 
Milch, Brot, Butter und Honig. Allsogleich wollten sie Hand 
anlegen, besonders die schlanken Töchter, da sprach aber — und 
sehr zur Unzeit — beim Herrn Vater das Gewissen drein. 
Sie hatten sich gesagt, daß sie niemand Schaden tun wollten, 
und jetzt sollten sie da einen Raub ausführen? Sollten sich Sachen 
aneignen, ohne ein Recht darauf zu haben? Das darf platterdings 
uicht sein. — Die ältere Tochter aber tauchte ihren Zeigefinger 
in den Rahmtopf und leckte ihn ab. Die Frau Mutter verwies 
heftig, daß sich so was nicht schickt — ohne Löffel in die Töpfe 
3U greisen. Sie fand in der Tischlade Eßzeug, und gerade als ob 
ste daheim wäre am eigenen Herd, deckte sie den Tisch und trug 
bie lockenden Sachen ordentlich auf. Der Herr Vater erging sich 
so lange in schönen Moralbetrachtungen über Mein und Dein, bis 
kr mit einer großen Schnitte Butterbrot seinen Mund zustopfte. 
„Wir werden ja Geld dalassen! Einen ganzen Gulden!" Mit 
biesem Vorsatz beschwichtigten sie ihre grübelnden Gemüter. Doch 
als der erste Heißhunger gestillt war, fand der Herr Vater, daß 
ein halber Gulden auch genug wäre. 
Paldamus-Rehorn, Lesebuch. AuSg. E. Seil 6. 
6
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.