Full text: (6., 7. [und 8.] Schuljahr) (Teil 4)

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diesem Augenblicke das Teuerste schien oder das Nächste 
war. In den Strassen war ein Rennen, Fahren, Toben, 
Drängen, Schreien. Es war fast unmöglieh, hbindurehzu- 
kommen. Derselbe Tumult auf allen nahen Pleeten 
Die Aufmerksamkeit der Schauenden wendete sich natür- 
lich besonders dem Turme zu. Leichte Rauchwolken, wie 
von dem PFeuerrande einer Cigarre, zogen zuersb von einer 
Kugel im oberen Teile des Turms weg. NMan vollte nicht 
glauben, was man sah. Line feine Röte schimmerte da— 
wischen. Man überredete sich, es sei der Widerschein von 
unten. Die Rauchwolken drängten sieh immer stärker her- 
vor, endlich sehlug die Hlamme lodernd empor und jeder 
Zweifel musste vor der schrecklichen Wahrheit verstummen. 
Noch einmal zerrte der Dürmer mit dem Bewulstsein, dals 
es zum letzten Mal sei, an den Strüngen der Peuerglocke. 
Sein Kollege, der Türmer auf dem St. Nichaelisfurm, der 
schon lange zu stürmen aufgehört hatte, läutete mit feier- 
lichen, schauervollen Klängen die Totenglocke über die hin- 
sinkende Pracht des nachbarlichen Turmes. Bald drangen 
aueh aus der Spitze Rauch und Hlammen heraus. Es war 
als kletterte die Flamme an der steilen Pyramide bis zum 
Knopfe empor und klammere sich dort fest. Auf Augen- 
blicke wehte der Sturm die Llammen wieder aus, in ver- 
stärkter Glut umschlangen sie bald das erkorene Opfer von 
neuem. Da klangen noch einmal, vunderbar, als wenn der 
sterbende Turm sein Schwanenlied sünge, die bekannten, uns 
allen so heimatlich tönenden Klänge des Glockenspiels, aber 
nicht als Choral oder Melodie, sondern wie von ungeheurem 
Schmerz zerrissen, schallten wild durcheinander die Stimmen. 
Was sonst zum frühen DTagewerk, zum hestgefühl, zu Last 
und Schmerz, zum bräutlichen Sehmuck und zum düstern 
Ernst des Totengepränges harmonisch mitgeklungen, das liess 
nun, wie in wahnsinniger Verzweiflung malslos seine Stimme 
erschallen. Und wer es vernabm, konnte der unbewegt 
bleiben? 
Um 4 Uhr stürzte die obere Spitze des Turmes auf den 
Kirchhof und das Kirchendach nach der Südseite und ent- 
zũndete zugleieh das Kirchendach und die naheliegenden 
Pastorenhãuser. Hoch seblug nun die Lohe aus dem Turm 
empor. Pin Geprassel, wie Geheul eines Sturmwindes, be- 
gleitete die FPlammen, die in immer bunterem PVarbenspiel 
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