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die Helden kommen sah, ging sie ihnen mit ihren Frauen ent¬
gegen und fragte nach ihrem Begehr. Siegfried sagte ihr, daß
Günther ihrer Minne begehre und mit ihr kämpfen wollte. So¬
gleich wurden die Vorbereitungen getroffen. Inzwischen ging
Siegfried unvermerkt znm Schiffe, nahm seine Tarnkappe an sich
und kehrte dann allen unsichtbar zurück. Jetzt kam von ihrem
Ingesinde begleitet die Königin, geschmückt mit einem seidenen
Waffenhemde und einem Panzer von eitel Gold. Vor ihr her
trugen zwölf starke Männer den großen schweren Stein in die
Mitte des Kampfplatzes, und der Streit hub an. Günther stand
zaghaft; aber ungesehen flüsterte ihm Siegfried zu: „Sei ohne
Furcht! Gieb dir den Schein, als ob dn kämpftest; mich aber
Laß das Werk vollführen." Und schon warf Brnnhild den Speer
mit solcher Gewalt, daß er Siegfrieds Schild dnrchdrang und
Helle Funken ans dem Eisen stoben. Siegfried strauchelte; aber
rasch schlenderte er seinen Speer so kräftig nach der Jungfrau,
daß sie zu Boden sank. Voll Zornmuts sprang sie wieder auf,
faßte den Stein mit starker Hand, warf ihn zwölf Klaster weit
und sprang dem geworfenen in fliegendem Sprunge nach. Da
aber hob Siegfried den wuchtigen Stein, warf ihn weit über die
Königin hinaus, erfaßte den König mit seinem Arm und sprang
mit ihm den ungeheuren Sprung noch weiter, als die Königin
gethan. Da erklärte sich Brnnhild überwunden, und ihre Mannen
huldigten dem Herrn von Burgund als ihrem Könige. Nur kurze
Zeit noch weilten die Helden auf dem Jsenstein; dann kehrten sie,
die Königin in ihrer Mitte, nach Worms zurück.
Und Siegfried erinnerte Günther des Versprechens, das er
ihm gethan. Da rief dieser die Schwester und fragte sie in
Gegenwart des ganzen Hofes, ob sie des kühnen Siegfried Weib
werden wolle. Errötend gab die Jungfrau das Jawort und ge¬
lobte sich dem Helden aus Niederland als seine Gemahlin zu eigen.
Dann kam der Tag der Vermählung, und zu gleicher Zeit ward
Günther mit Brunhild und Siegfried mit Kriemhild vermählt.
Vierzehn Tage lang währte die fröhliche Hochzeit. Dann zog
Siegfried mit seinem Weibe und seinen Gefährten zurück nach
Niederland. Da war die Freude groß im Palaste des Königs
Siegmund, und freudig begrüßten die Eltern die herrliche Königs¬
tochter der Bnrgunden. Siegmund legte Krone und Land in die