Full text: Klasse 4 (siebentes Schuljahr) (Teil 6, [Schülerband])

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im Bett ausschlief, hatte ihn diese Nacht auf der Bank in der Wirtsstube 
ausgeschlafen und erwachte im Augenblick, in dem Provi auf die Schwelle 
trat und rief: „Mei Müalch!“ 
Was sagte der Lacel? Was wollte er? Schober dehnte und redte 
sich. Ein verflucht kantiges Lager hatte er gehabt, seine Glieder schmerzten 
ihn, und seine Laune war schlecht. Der grobe Klotz Provi fand heute 
an ihm einen harten Keil. „Nicht zu verlangen, zu bitten hast, du Lump! 
Kannst nicht bitten?“ 
Der Junge riß die farblosen Augen auf, sein schmales Gesicht wurde 
noch länger als sonst, der große, blasse Mund verzog sich und 
sprach: „Na!“ 
Die Früchte, die ihm dieses Wort eintragen sollte, reiften sogleich. 
Schober sprang auf ihn zu, verabreichte ihm sein Frühstück in Gestalt 
einer tüchtigen Tracht Prügel und warf ihn zur Tür hinaus. Solche 
kleine Zwischenfälle machten aber keinen Eindruck auf den Jungen. Wie 
alltäglich fand er sich am nächsten Morgen wieder ein und forderte in 
gewohnter Weise „seine“ Milch. Die Wirtin gab sie ihm, aber eine 
gute Lehre dazu: 
„Du mußt bitten lernen, Bub, weißt? — Bitten. Bist schon alt 
genug, bist g'wiß — ja, wenn man bei dir nur was g'wiß wüßt'! — 
g'wiß schon vierzehn! Also merk dir, von morgen an: wenn's kein 
Bitten gibt, gibt's keine Milch.“ Sie blieb dabei, ob es ihr auch schwer 
wurde. Wie schwer, sah Provi wohl, und es war ihm ein Genuß, eine 
Befriedigung seiner Lumpeneitelleit. Ihm, dem Ausgestoßenen, dem 
Namenlosen, war Macht gegeben, der reichsten Frau im ganzen Orte 
Stunden zu trüben und die Laune zu verderben. Sie blickte ihm mit 
Bekümmernis nach, wenn er ohne Gruß an ihrer Tür vorüberging zur 
Arbeit in den Steinbruch. 
Dort taglöhnerte er jeßt beim Wegemacher, der ihn in Kost ge— 
nommen und ihm ein Obdach im Ziegenstall gegeben hatte. Der Wege— 
macher brauchte nicht, wie die andern Leute, den Umgang mit Provi 
für seine Kinder zu fürchten. Die fünf Wegemacherbuben konnte der 
Auswürfling nichts Böses lehren, sie wußten ohnehin schon alles und 
waren besonders Meister in der Tierquälerei. Die Ziegen, Kaninchen, 
die Hühner, die ihnen untertan waren, und der Haushund, die unglück— 
liche Spitzin, gaben Zeugnis davon, ihre Narben erzählten davon und 
ihre beschädigten Beine und ihre gebrochenen Flügel. Provi fand sein 
Ergötzen an dem Anblick der Roheit, den er jetzt stündlich genießen
	        
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