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herzhaft genoß, sondern führt uns in die frühere Zeit zurück, wo die
Staͤdte begannen, um Anerkennung ihrer Existenz zu ringen, in die
Anfänge des Bürgertums, wo dieses, weit davon entfernt, frei zu sein,
sich vielmehr unter die Botmäßigkeit irgend eines geistlichen oder welt—
lichen Herrn begab, um sich auf diese Weise desto besser gegen die
übrigen wehren zu können. Wir sprechen natürlich von diesem Unter⸗
schiebe, insoweit er sich in der Architektur der beiden Städte erhalten
hat; denn sonst hat sich jede Spur davon längst verwischt. Aber
architektonisch betrachtet, repräsentiert Nürnberg noch immer das spätere
Millelalter in welchem der Bürger wußte, was er wert sei, und
Häuser baute, die das Auge künstlerisch erfreuten, dem Sinne für einen
herfeinerten Luxus entsprachen und alles zusammen in ihrem zierlichen
Äußeren dem Geschmacke und Reichtum ihrer Bewohner Ehre machten,
wogegen Regensburg, einer früheren Periode des Mittelalters angehörend,
vorwiegend noch den Burgcharakter hat. Jedes Haus daselbst oder
vielmehr das typische Haus, deren es noch eine gar große Zahl gibt,
ist fest aus Stein, mit gewaltigen Grundmauern, massiven Thoren, hoch,
breit, mit zahlreichen, aber kleinen Fenstern und in der Regel ohne
bildnerischen Schmuck; aber fast jedes hat seinen Turm, entweder mächtig
emporsteigend in der Mitte des Gebäudes oder an einer Ecke desselben
angebracht, in halber Höhe zuweilen, wie ein Pfefferbüchschen.
Die meisten Straßen sind so eng, daß, wenn ein Wägelchen kommt,
alle Fußgänger rasch zur Seite springen und, an die Häuser gedrückt,
Schuß fuchen müssen; allein sie sind darum nicht finster, und überall
öffnen sich, dem Fremden ganz unerwartet, die merkwürdigsten Durch—
blicke. Durch tiefe Thorbogen sieht man in weite, dämmerige Haus⸗
fluren, die für eine Burghalle gut genug wären und einst auch wohl
zu etwas ähnlichem gedient haben mögen. Höfe dehnen sich dahinter
aus mit Säulen von Stein, an welchen die sorgsame Hausfrau des
19. Jahrhunderts Wäsche zum Trocknen aufgehängt hat oder mit
schweren Wölbungen im Spitzbogenstil, deren Profile rötlich von einem
Schmiedefeuer glühen. Man kann nicht zehn Schritte gehen, ohne,
wenn man ein Auͤge dafür hat, irgend ein ähnliches Bild zu sehen,
irgend eine Perspektive mit Rembrandtschen Lichtern, irgend eine Scene,
die, von dem Oval alten Mauerwerks eingefaßt, wie auf dunkler, zeit—
gebräunter Leinwand erscheint. Auf Markt und Straße, im Wirts—
hause und Kaufladen, überall sind wir von der Vergangenheit eng
uͤmgeben, und in Regensburg wie in Nürnberg hängt sie so genau
mit dem täglichen Leben zusammen, daß man sich dieses ohne jene gar
nicht denken könnte. Doch in Nürnberg herrscht die leicht und licht
emporstrebende Gotik, die heitere, dem sonnigen Süden entlehnte
Renaifssance, phantasievoll und phantastisch die eine, lieblich und an
Abwechselung reich die andere; und in Regensburg ist es das frühere
Mittelalter, welches mit seinen starken Pfeilern und schweren Bogen
sich in gar manchem einfachen Bürgerhause erhalten hat. Ein jedes
Deutsches Lesebuch f. hbhere Lehranstalten. UI. 18