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Nissen als Tyrann. Er spielte mit dem Leben seiner Unterthanen wie
mit den Köpfen seiner eigenen Frauen. Man nannte ihn nicht mit Un¬
recht den englischen Blaubart. Kaum hatte die heitere Anna Boleyn
vier Jahre lang mit der Krone sich geschmückt und eine Tochter, Elisa¬
beth, geboren, als Heinrich ihrer überdrüssig wurde, weil ihm die rei¬
zende Johanna Seymour wünschenswerter schien. Er suchte eine
Ursache, sie zu todten, da er einen Mord für weniger sündhaft, als eine
Vermählung ohne gesetzmäßige Ehescheidung von der noch lebenden
Verstoßenen hielt. Allzu gefügige Richter, denen der Wunsch des Königs
Befehl war, legten der jungen Königin Verbrechen zur Last, von denen
sie wohl nie eine Ahnung hatte. Heinrich ließ seine unglückliche Ge¬
mahlin durch das Parlament verurtheilen und öffentlich enthaupten.
Sie starb mit edler Fassung ohne Klage. Kurz vor ihrer Hinrichtung
ließ sie dem Könige sagen: „er habe sie erst zur Marquisin, dann zur
Königin erhoben; nun wolle er ihre Unschuld krönen mit der Märtyrer¬
krone." Das einzige Kind dieser Ehe, die nachmalige Königin Elisabeth,
ward fern vom Hofe bei Verwandten ihrer Mutter erzogen*).
Johanna Seymour, seine dritte Gemahlin, gebar dem Könige einen
Sohn, Eduard, starb aber wenige Wochen nach dessen Geburt. Nun
vermählte sich Heinrich mit der Prinzessin Anna von Cleve aus
Deutschland, deren Bildniß, von dem deutschen Maler Holbein gemalt,
ihm gefiel; als er sie aber bei der Ankunft nicht so schön sand, ließ er sich
von ihr scheiden. Darauf wagte es Katharina Howard, seine Hand an¬
zunehmen; aber schon im ersten Jahre ihrer Vermählung wurde sie an¬
geklagt, verurtheilt und enthauptet. Zum sechsten Male heirathete Hein¬
rich die Wittwe eines Barons, Katharina Paar, die sich durch kluges
Benehmen bis zu seinem Tode zu behaupten wußte. Heinrich VIII. starb,
frühzeitig alternd, im Jahre 1547, dem Todesjahre von Franz I.
Auf Heinrich VIII. folgte sein neunjähriger Sohn, Eduard VI.,
unter dessen kurzer, nur sechsjähriger Regierung die Reformation durch
den Erzbischof Cranmer mit Hülfe einiger ausländischen Gelehrten,
Martin Bucer's, Paul Fagius' und Peter Martyr Vermili's, im ganzen
Reiche eingeführt wurde. Dies konnte um so leichter geschehen, da ohne¬
hin der größte Theil des britischen Volkes dem Evangelium insgeheim
ergeben, und nur durch die Grausamkeit Heinrichs VIII. zurückgeschreckt
worden war, es laut zu bekennen. Die Bischöfe, denen ihre Güter und
Rechte verblieben, willigten ein, und die Kirchenverbesserung hatte den
erwünschten Fortgang, ohne daß irgend ein Katholik seines Glaubens
wegen am Leben gestraft ward. Es wurden zu dieser Zeit Verhand¬
lungen gepflogen wegen einer Vermählung des jungen Königs mit Marie
von Schottland, aus dem Hause Stuart, welche ihrem Vater, Jakob V.,
*) Besonders nahm sich der Geistliche Parker, ein heimlicher Protestant, dem Anna
Boleyn ihre Tochter empfohlen hatte, der Prinzessin an.